Artikel 5: Eine Diskussion findet nicht statt.

Jahres-End-Rant, der zweite Versuch. Nachdem ich mich ursprünglich über die Befindlichkeiten und den allgemeinen Zustand der Nation einer Neujahrsansprache angemessen auslassen wollte, stolperte ich sozusagen kurz vor Redaktionsschluss über eine Statistik, die es nach zweimaligen Hinsehen viel eher verdient, eine unrühmliche Rolle in meinem traditionellen Silvester-Pamphlet zu spielen. Und da ein Rant zur Gesamtsituation des Landes mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch im nächsten Jahr durchaus nicht unangebracht sein wird, kann ich mich dieser aktuellen und äußerst unerfreulichen Datenerhebung widmen.

Um es kurz zu machen: Die Meinungsfreiheit ist nach allgemeiner Meinung (welch Ironie) im A….llerwertesten. So zumindest, wenn es nach den Daten und Fakten einer allgemeinen Umfrage veröffentlicht im Dezember Anno 2023 geht (Umfrage). Nur noch 40% der dort Befragten glauben, ihre Meinung frei äußern beziehungsweise frei reden zu dürfen. 44% Prozent hingegen sind der Auffassung, dass es durchaus vernünftiger wäre, vorsichtig mit dem zu sein, was man so von sich gibt. Der niedrigste Wert seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1990. Vermutlich ein Effekt des Klimawandels.

Jetzt könnte man diese 44% einfach mal so alleine im Raum stehen und sacken lassen. Dann würden diese sich aber sehr schnell sehr einsam fühlen und ein Blick auf den Verlauf der Umfragedaten ist durchaus lohnenswert bevor man sich dann auch mal mit dem Realitätsgehalt dieses Unfreiheitsgefühls auseinandersetzt. Auffällig ist, dass ein klarer Abwärtstrend zur gefühlten Meinungsfreiheit festzustellen ist. Die Stelle, an der die Axt aber dem Zimmermann den Boden ausschlägt, sozusagen der Pillenknick der Meinungsfreiheit, lässt sich irgendwo zwischen 2017 und 2021 ausmachen. Eine genauere Lokalisierung dieses Absturzes ist leider aufgrund der Tatsache, dass es innerhalb dieses Zeitraumes keine weiteren Erhebungen gab, nicht möglich, aber es könnte durchaus einen Zusammenhang mit weltpandemischen Ereignissen (oder besser gesagt mit nationalen Umgangsstrategien) geben, die diesen Vertrauensverlust von nahezu 20% (von 63% auf 45%) erklären könnten. Und jetzt? Hat man größtenteils Verschwörungsdenker und Quertheoretiker befragt? Wäre wohl die Erklärung, die man heute am schnellsten aus dem Hut zaubern würde, aber dann würde man die Erhebung als methodisch fragwürdig erklären müssen (oder „problematisch“ wie man heutzutage so schön sagt, wenn man die Dinge in Misskredit bringen möchte). Zudem ignoriert es die Tatsache, dass der Abwärtstrend nicht erst in den letzten 4 Jahren entstanden ist, sondern sich nur verstärkt hat.

Also, Vorhang auf zu unserem heutigen Spektakel. Lasst uns auf polemischste Art schauen, ob unsere Meinungsfreiheit wirklich auf die Rote Liste gehört und wenn ja, warum nicht.
Beseitigen wir erst einmal die harten Fakten, dass ist ja heutzutage eine durchaus valide Herangehensweise. Da wäre zum Beispiel die allgemeine Gesetzeslage: Hat sich in den letzten 30 auf rechtlicher Seite irgend etwas verändert, so dass ich auch heute etwas nicht sagen darf, was ich vorher auch schon nicht sagen durfte. Und viel wichtiger: Darf ich heute Dinge nicht nicht sagen, die ich vorher auch schon nicht nicht sagen durfte?
Man mag es kaum glauben, aber die simple Antwort darauf ist tatsächlich: Nö. Von Staates Seite her hat sich (Achtung: rein rechtlich) absolut nichts daran geändert, welchen Stuss und Sermon der Einzelne von sich geben kann und welcher Quark strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Und kommt mir nicht mit irgend welchen Gesetzen gegen „Hatespeech im Netz“. Hassparolen und Volksverhetzung waren schon immer verboten, gingen aber in der früheren Zeit eher mit Flugblättern und Graffiti als mit Online-Beiträgen einher. Haken wir diese Formalie also ab.

Wenden wir uns also dem ersten weichen Ziel hinter Tor Nummer Eins zu und schauen mal, was wir da so finden.
Eine allseits beliebte Aussage zum Thema Meinungsfreiheit  welche gerne von denen verwendet wird, die sich im absoluten Recht sehen (meist aber eher Link stehen), ist: „Jeder darf alles sagen, er/sie/es muss halt auch das Echo oder die Antwort vertragen“. Das ist erst einmal nicht ganz unrichtig, aber bei genauerem Hinsehen wird es hier sehr interessant. Denn in der Tat hat sich an dieser Stelle teils massiv (oh Shit, jetzt habe ich diese journalistisch-dilettantistische Floskel auch verwendet) der Modus Operandi verändert. Der gefühlte Diskussionsraum hat sich nämlich in der Tat sehr stark von einer persönlichen und eher eng begrenzten Ebene hin zu einem anonymen Massenphänomen entwickelt. Oder anders formuliert: Einen von Online-Medien unbeeinflussten Meinungsaustausch gibt es eigentlich nicht mehr (auch nicht im Privaten) und das hat weitreichenden Konsequenzen. Klammern wir einfach mal die Tatsache aus, dass Online-Plattformen fast ausschließlich aus Meinungsbubbles bestehen und wirklich niemand (in Worten „NIEMAND“) dort aktiv ist, um sich eines Besseren belehren zu lassen sondern prinzipiell immer Recht hat, selbst wenn die Person gar nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht, so bleibt dennoch die Tatsache, dass diese Diskussionsunkultur auch in der fleischlichen Welt um sich greift, bzw. diese ganz bewusst dahingehen manipuliert wird (Influencer und so…). Shitstorms haben ihren Ursprung nicht mehr ausschließlich im Netz oder betreffen Personen des öffentlichen Lebens, sondern können dank Asocial Media jederzeit über jeden hereinbrechen und das Teils mit fatalen Konsequenzen. Wer nicht Teil dieses Nichtdebattenraumes ist, hat da im Endergebnis durchaus bessere Karten, seine Meinungen zu äußern, auch wenn diese unbequem sein mag, denn diese Person lässt sich dann nur sehr schwierig an die virtuelle Wand stellen um sie mit Scheiße zu beschmeißen. Im Klartext: wer nicht getagged werden kann oder verlinkbar ist, hat durchaus weniger hässliche Konsequenzen zu befürchten, als Menschen, die man im öffentlichen Raum durch die Mangel drehen kann. Und da diese Zahl beständig kleiner wird, wird in der Konsequenz die Zahl an Menschen größer, die sich lieber genau überlegen, was und wie sie es sagen, als mit den Konsequenzen teilweise bewusst gewollten Missverstehens und Interpretierens durch die (online-mediale) Mangel gedreht zu werden. Das „Echo“ ist also kein diskursbasierter Gegenwind sondern eine aufgescheuchter wütender Onlinemob, der sich in Extremfällen auch gerne mal in die reale Welt „herunterlädt“. Und dann muss man doch konstatieren: Meinung zu äußern, egal wie blödsinnig sie sein mag, kann tatsächlich wesentlich schneller in der Tat auch physisch und psychisch gefährlich werden.

Verlassen wir an dieser Stelle Tor 1 und werfen einen Blick hinter Tor 2. Dort finden wir….eine nicht mehr vorhandene Diskurskompetenz kopulierend mit zwanghaftem Schubladendenken und mentaler Inflexibilität. Wirklich JEDE Diskussion (ja ja, ich weiß, absolute Meinung und so…also gut, FAST jede) beginnt und endet sofort damit, dass ihr Gegenstand danach bewertet wird, ob dieser Links oder Rechts ist und ob Vertreter dieser oder jener Grundthese „problematisch“ sind. „Problematisch“ definiert sich übrigens daraus, dass besagter Personenkreis zum Beispiel in unliebsamen Medien veröffentlicht, die falsche Partei wählt oder einen Satz oder Sätze von sich gegeben hat, die (vornehmlich aus dem Kontext gerissen) diesen Personen jedwede Glaubwürdigkeit oder Kompetenz absprechen (sollen). Sollte sich kein eindeutiges Rinks oder Lechts feststellen lassen, so wird einfach gewürfelt, den „Verlauf“ der Diskussion ändert dies erstaunlichst in keinster Weise. Der eigentliche Inhalt, der zentrale Kernpunkt einer Diskussion, wird meistens gekonnt oder weniger gekonnt ignoriert oder mal kurz angekratzt, geht aber im allgemeinen Feuer der brennenden Strohmänner unter.
Der Vernunftbegabte verlässt an dieser Stelle den Diskussionskomposthaufen, denn er ist sich gewahr, dass ein Austausch von Argumente hier nicht statt finden kann und ein möglicher Perspektivwechsel beim Gegenüber ein Wunschtraum bleiben wird. Diskussion beendet, Meinungsfreiheit nicht eingeschränkt aber dafür wieder ein Stück Meinungsvielfalt verloren. Vielen externen Rezipienten solcher Vorgänge erscheint dies aber dann tatsächlich im Lichte eines „der darf das nicht sagen…“. Und schwupps, schon wieder ein paar Prozentpunkte mehr vom Meinungsfreiheitsindex weg gehobelt.
Wer sich hingegen auf eine solche potenzielle Schlammschlacht einlässt, der verirrt sich ganz schnell in Tor 1 mit den oben beschriebenen Konsequenzen

Schreiten wir weiter zu Tor 3. Dort finden wir…richtig…den Zonk. Wie ich eingangs erwähnte, hat sich die rechtliche Situation, also das Rahmenwerk, welches der Staat zur Entfaltung der freien Meinung definiert, nicht geändert. Und das ist auch gut so. Was sich hingegen verändert hat, ist die Beziehung zwischen staatlichen Organen, Parteien und Bürgern. Das sich Parteien jedweder Couleur an der allgemeinen Meinungsmache beteiligen – geschenkt. Meinungen, Ideen und teilweise auch Ideologien gehören in die politische Landschaft. Aus diesem Grund existieren Parteien, aus diesem Grund existieren Wahl- und Grundsatzprogramme und genau das ist in einer schönen Theorie die Grundlage eines demokratischen Systems und Miteinanders.
Was nicht mehr existiert ist ein konstruktiv-argumentative Herangehensweise. Es geht einzig und alleine darum, den (politischen) Gegner und seine Unterstützer zu diskreditieren, ihnen Intelligenz und Fähigkeiten abzusprechen und sie als Gefahr für die Allgemeinheit und Weltfrieden im Besonderen darzustellen. Das ist jetzt bei Weitem nicht neu, allerdings hat sich das Ausmaß dieser Methodik drastisch erhöht und scheint aktuell das einzig verbliebene Werkzeug im Kasten der politischen Schlammschlachten zu sein. Unschön dabei ist, dass dies nicht mehr auf das – wie sagen ich es am Besten? – Politotop beschränkt bleibt, sondern man diese Methodik ganz dilettantisch per Gießkanne über die gesamte Wählerschaft und den Rest der Bevölkerung auskippt. Großmütig erklärt man dann, dass man die Gesellschaft nicht spalten will und diese Spaltung auch nicht existieren würde und nur eine paranoide Fantasie der Meinungsfernen sei. Gebetsmühlenartig versichert man sich dieser vermeintlichen Tatsache immer und immer wieder nur um dann im nächsten Schritt wieder undifferenziert in Gut und Böse einzuteilen. Das ist in der Klima-Politik so, dass war in der Corona-Politik so, über die Migrationsdiskussion lohnt es sich fast gar nicht mehr zu reden, nachdem man hier langsam feststellt, dass gut nicht immer gut und böse nicht immer böse ist und absolute Standpunkte in dynamischen Systemen eher ein blöde Idee sind. Überzeugen muss niemand mehr, lediglich die Gegenseite für dumm, uneinsichtig und ignorant erklären und jedwede Meinungsäußerung mit harschen öffentlichen Konsequenzen (siehe Tor 1) dekorieren. Ist am Ende auch viel bequemer, als sachbezogene Kompromissdiskussionen. Gut/Böse ist viel einfacher. Und da nur 100% Deckungsleichheit mit der eigenen Meinung “Gut” bedeutet, sind Kompromiss- und Konsens-Suchende dort eben nicht zu finden und dürfen in der Diskussion dementsprechend diskreditiert und nach belieben denunziert werden. Am Ende gilt auch hier: Der schlaue Konsens-Suchende verlässt die Möchtergern-Diskurs-Sickergrube, bevor er von den überquellenden Fäkalien wieder zu Tor 1 gespült wird. Und die gesamte Medienlandschaft spült zusätzlich ihre Abwässer bis zum Überlaufen mit in diese Grube. Meinungsfreiheit gerettet und Politik und Medien haben natürlich alles richtig gemacht…oder so ähnlich.

Und nun? Was ist die Quintessenz des Ganzen, die Erkenntnis? Ist dieses Gefühl nicht mehr alles sagen zu dürfen mit irgend welchen Fakten begründet? Sollten wir uns sorgen um das hohe Gut der Meinungsfreiheit machen? Ja, das sollten wir, aber nicht, weil uns ein Staat, eine Regierung, ein politisches System diese beschränken oder abschaffen will. Wir selber sind es, die sich gegenseitig den offenen Austausch von Meinungen zur Hölle machen. Man hat uns in den letzten 30 Jahren dazu ein stetig größer werdendes Instrumentarium an Folterwerkzeugen gegeben um argumentativen Austausch auf das Einfachste zu unterbinden. Und solche Sätze wie „Das ist aber keine Meinung sondern XYZ…“ zeigen auf erschreckende Weise, wie niedrig inzwischen die Stöckchen hängen, über die alle spring. Denn grundlegend ist wirklich alles eine Meinung, egal wie bescheuert, abgehoben, ekelhaft, unverständlich oder sinnfrei es auch sein mag. Ansonsten würde man es nicht mehr Meinung sondern Fakt oder bei Akzeptanz sogar Konsens nennen. Meinung muss nicht korrekt, fundiert, belegbar oder allgemein anerkannt sein. Das wir etwas als „Keine Meinung“ definieren, ist lediglich ein mentales Hilfskonstrukt, mit dem wir uns dann selber einreden, niemandem die Meinung beschränken zu wollen. Also deklamieren wir einfach „das ist keine Meinung“ und dürfen fröhlich losdiffamieren.
Ja, sogar rassistische, extremistische, faschistische Ideen sind Meinungen, zwar absolut idiotische, aber trotzdem Meinungen. Unser Grundgesetz setzt genau dort an und grenzt die Meinungsfreiheit genau dort ein, so sie potenziell gesellschaftlich schädlich wird. Im relevanten Artikel steht allerdings nicht, dass es sich dann nicht um eine Meinung handelt, welche nebenbei gesagt auch durch diesen Paragraphen nicht aus den Köpfen der Betreffenden verschwindet. Es gibt sehr gute Gründe, warum die Hürden für das, was nicht gesagt werden darf, sehr sehr hoch liegen und wir sollten den Teufel tun, diese Grenzen durch Selbstjustiz und der eigenen gefühlten moralischen Selbstgerechtigkeit immer niedriger zu hängen.
Wie eingangs beschrieben zeigt uns die Statistik hier eines: Es sind nicht nur die üblichen blau-braunen Verdächtigen, die sich in dem, was gesagt werden darf eingeschränkt fühlen und es ist deutlich mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft. Um es Euch vielleicht mal plastisch vor Augen zu führen: Stellt Euch vor ihr habt Eure engste Familie und Eure besten Freunde zu einer Party eingeladen und 20 Personen feiern fröhlich mit Euch zusammen. Stellt diese 20 Personen in eine Reihe und zählt durch. Jeder zweite, jede gerade Zahl in dieser Reihe glaubt, in vielen Fällen nicht mehr frei reden zu können. Und nun? Ach so, in Eurem Freundes- und Familienkreis ist das nicht so? Ok, gut, dann müssen wir dies halt statistisch wieder ausgleichen, nehmen 20 weitere Kollegen und Nachbarn dazu. Damit die Statistik wieder stimmt, glaubt eben jeder(!) dieser, seine Meinung nicht mehr frei äußern zu dürfen. JEDER! Weil JEDER in eurem Freundeskreis und in der Familie seine Meinung Eurer Erkenntnis nach frei äußert. Das glaubt Ihr zumindest.

Was will uns der Dichter mit diesem Beispiel sagen? Im Endeffekt nichts anderes, als dass dies verdammt hohe und gefährliche Werte sind, gegen die wir uns mit aller Kraft wehren müssen. Wie bereits gesagt, sind wir selber die Vollhorste, die sich die Meinungsfreiheit gegenseitig wegnehmen. Und statt es so zu halten, wie es eigentlich seit jeher funktioniert hat, nämlich Meinungen, die keinen Konsens bilden, die jenseits jedweder Faktenlage und Realitätsbezug existieren sich selbst zu Tode stürzen zu lassen, geben wir ihnen überhaupt erst Gewicht und machen sie zu den Monstern, die wir dann verzweifelt zu bekämpfen versuchen. Schon irgendwie idiotisch und auch schizophren, wenn man genauer drüber nachdenkt. Schaut mal genau hin. Inzwischen gibt es genug Ansätze (nachweisbar in diversen Druckerzeugnissen), die Homöopathie oder bestimmte „achtsame“ Erziehungsansätze mit politisch rechten Tendenzen verknüpfen, von der unsäglichen social-media getriebenen „Sind Veganer rechts“-Clownerie ganz zu schweigen. Wenn ich jemanden 20 mal sagen, dass er ein Nazi ist, derjenige aber überhaupt nicht weiß, warum und nicht versteht, warum er sich diesen Schuh überhaupt anziehen sollte, dann sagt er halt beim 21 mal: „Na gut, dann bin ich halt ein Nazi“. Damit ist die Diskussion auch beendet, aber irgendwie beschleicht mich hier das Gefühl, dass wir damit nichts gewonnen haben.

Kommen wir aus dieser Spirale irgendwie wieder raus? Oder sehen wir in der Statistik 2027 dann, dass nur noch 30 oder weniger Prozent glauben, ihre Meinung frei äußern zu können ohne gesellschaftliche und persönliche Konsequenzen zu fürchten? Nach den letzten Jahren fürchte ich, die Antwort zu kennen, aber meine Frau sagt, ich soll etwas optimistischer sein. Also bekommt Euren Arsch hoch, unterdrückt den Reflex, zu jedem Scheiß was sagen zu müssen und vor allem, lasst die Leute sich selbst um Kopf und Kragen reden. Wenn es absurd wird, regelt sich das von selbst, wenn Ihr es denn zulasst.

In diesem Sinne, Over & Out.

See you in 2024 ihr Loddersäcke

Der Influencer-Virus – Eine Studie zu schädliche Nebenwirkungen von Influencer(n) auf das zerebrale System bei Langzeitexposition

Da ist er wieder, der berüchtigte Jahres-End-Rant und fast schon traditionell auch der einzige Eintrag, den ich über die letzten 12 Monate in diesem Blog – auch wenn es diese Bezeichnung schon lange nicht mehr verdient – tätige. Alleine, der Gattin verlangt es danach und als guter Ehemann ist es natürlich meine Pflicht, das Verlange der Gattin zu befriedigen. Folglich heißt es, sich an die Tasten zu setzen und die Windungen des Hirns zu stürmen, welches oder welche weitreichenden und gereichten Ereignisse denn meines Zorns würdig sind.

Nicht, dass dieses nach langem Siechtum dahinscheidende Jahr jede Menge Kontro- und auch etliches Perverses zu bieten gehabt hätte. An gesamt- und globalgesellschaftlichem Blödsinn hat es zu keiner Zeit gemangelt. Allerdings findet dieser sich inzwischen auf einem so niedrigen Niveau wieder, dass es einfach keinen Spaß mehr macht, diesen mit der metaphorischen Axt zu er- und zerlegen.

Also alles, über was ich im diesjährigen Rant nicht reden will, in der Kurzfassung:

  • Ukraine-Krieg: Faschistische Autokratie mit schwerem Realitätsverlust bei der Regierungsspitze…öhh, Entschuldigung, es muss natürlich „beim Führer“ heißen, führt Angriffskrieg mit genozider Zielsetzung. Diskussion nicht notwendig, da eindeutig irrsinnig und widerlich. Wegtreten!

     

  • Pandemie: „Des Corona, hat des jetzt eigentlich was gebracht? Nee, gell? (frei nach Badesalz)

     

  • Fußball, WM und FIFA: Nö, Diskurs sinnlos. Außerdem kann man nicht auf Entitäten eintreten, deren moralisches Niveau bereits zweieinhalb Meter unterhalb der Grasnabe gerade vollständig verrottet ist.

So richtig aufregen kann einen nicht mehr wirklich viel davon. Aber worüber könnte ich mich dann von oben herab auslassen?

Die Antwort bringt in diesem Fall der älteste Spross der Familie regelmäßig abends mit an den Esstisch: Influenza…ach nee…Influencer…

Es ist nicht nur bezeichnend, dass die Rechtschreibprüfung dieses Wort als fehlerhaft markiert, denn das ist es und das dadurch beschriebene Subjekt Zweifels ohne, es ergibt auch dahingehend einen Sinn, dass das Niveau der Gespräche während des Abendessens von dieser „Berufs“gruppe sehr oft einfach hinweg-influenced wird.

Um irgendwelchen Missverständnissen vorzubeugen: Mir ist das Konzept des Influencens und artverwandter Tätigkeiten über alle Kanäle, welche das digitale Medium so zu bieten hat, durchaus geläufig, denn auch ich konsumiere Inhalte diverser Plattformen wie Youtube und Instagram. Allerdings lässt mich das Konstrukt dieser gigantischen, jeder-mit-jedem agierenden, diskutierenden, reagierenden und in nicht wenigen Fällen anscheinend auch kopulierenden Beeinflusser-Blase schon ein wenig verstört zurück. In vielen Fällen erinnert mich das alles an Scripted-Reality-Soap-Dokus, in denen regelmäßig neu durchgemischt wird, wer gerade mit wem gut (oder schlecht) kann, wer der Good Guy und der Bad Ass ist und wer gerade mit wem in was für einer auch immer geartete Beziehung steckt. Dies alles allerdings dann auf dem Niveau der 90er Jahre Storylines des Profi-Wrestlings.

Sei es wie es sei, zu diesem recht undurchsichtigen Konglomerat an Influencer-Geklüngel gesellt sich ein guter Schuss vorgetäuschten Exhibitionismusses, denn der Beeinflusser agiert ja vermeintlich als individuelle Persönlichkeit, die gerne auch mal ins Private und Intime blicken lässt. Da wird von gesundheitlichen Problemen über psychische Störungen bis hin zu favorisierten Sexstellungen und der eigenen Aktfrequenz so ziemlich alles an Informationen mit der eigenen „familiären“ Community geteilt, welche im Einzelfall auch gerne aus mehreren familiären Millionen von Zuschauern besteht. Der ein oder die andere ist dann wenigstens so ehrlich und biegt direkt Richtung „Only Fans“ ab, da lässt sich dann mit dem realen Entblättern halt noch mehr verdienen als mit dem mal mehr mal weniger vorgetäuschtem Seelenstriptease.

Die Formate (welch Pervertierung dieses Begriffes), mit denen dann die Community unterhalten wird und sich anscheinend auch unterhalten lässt, führen im günstigsten Fall zu einem milden Lächeln in vielen Fällen aber zu einer gehörigen Portion Brechreiz. Dabei sind Reactions – oft auf ähnlich geistige Ergüsse anderer Influencer – ja noch die harmloseste Variante des Niveau-Limbos. In den meisten Fällen werden einfach Party-Spiele, welche wir in den 90ern einfach mit einer Flasche schlechten Alkohols in irgendwelchen sporenverseuchten Partykellern gespielt haben, etwas aufpoliert („Ich hab noch nie…“, „Wahrheit oder Pflicht“, „Kiss, Marry, Kill“, etc. pp.). Schaut man auf die Click- bzw. View-Zahlen dieser Beiträge beschleicht einen schon der Verdacht, dass das Leben der meisten Rezipienten doch recht armselig verlaufen sein muss oder immer noch verläuft. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass man gerne mal dem ein oder anderen Youtube- oder Twitch-Promi beim Zocken von Videospielen zuschaut, dieses aber auch bei den belanglosesten Partyspielen zu tun lässt sich nur mit einer gehörigen Portion Voyeurismus erklären oder der Abwesenheit jeglichen Mindestanspruches.

Könnten wir es an dieser Stelle nicht gut sein lassen, denn immerhin wurde und wird dieses Maß an minimal-intellektueller Unterhaltung ja seit je her von diversen Fernsehkanälen bedient. Könnten wir, wenn diese ominöse Gruppe an Content-Kreaturen…Entschuldigung…Kreatoren, sich einfach weiter in ihrem (A)soziotop aufhalten würde. Das ist natürlich Wunschdenken, denn hin und wieder fühlt sich ein nicht kleiner Teil berufen, zu politischen und gesellschaftlichen Themen „seriöse“ Inhalte zu produzieren, zu recherchieren und zu kritisieren, zugegebener Maßen mal mit mehr, mal mit weniger berauschender Qualität. Euphemistisch nennen dass die meisten bei sich dann auch Journalismus. Leider ist in diesem Konstrukt bereits ein schwerer Kardinalsfehler eingebacken, nämlich der, dass es sich nicht um Journalisten sondern um Beeinflusser (jaja, so übersetzt sich der Begriff in der Tat) handelt. Jeder einzelne eben dieser Beeinflusser hat eine Community, welche eine bestimmte Erwartungshaltung an ihn/sie/es stellt und welche sich aus den gelieferten Inhalten speist. Und wenn der entsprechende Content-Creator sich nicht von vorne herein darauf festgelegt hat, journalistisch zu arbeiten, dann werden Influencer den Teufel tun, nicht an ihre Anhängerschaft zu liefern. Denn das verlangt das Geschäftsmodell. Viel mehr als Clicks ist in diesem Zusammenhang nämlich die Anhängerschaft wichtig. Werbung, Merch-Artikel, Partnerschaften etc. ist auf die Community ausgerichtet und nicht auf einen versehentlich vorbei-surfenden Interessierten, der sich nicht für den restlichen Low-Brain-Firlefanz interessiert. Journalistisch sauber arbeiten heißt auch, Themen anzupacken, bei denen einem Rechereche-Ergebnisse auch mal nicht genehm sind oder bei denen vielleicht auch mal die eigene Anhängerschaft an ihren eigenen Weltbildern rütteln muss. Und sind wir ehrlich, dass wird nicht passieren, denn der Cashflow und das Standing sind doch an den meisten Stellen und in den meisten Fällen wichtiger als journalistische Integrität. Oder um es anders auszudrücken: Viele würden sich – zurecht – an den Kopf greifen, hätte sich Dieter Bohlen regelmäßig zu politisch-gesellschaftlichen Ausführungen in Talkshows und Roger Willemsen zu Promi-Big-Brother eingefunden. Und das zurecht!

An dieser Stelle wollen wir fairer Weise auch mal zugestehen, dass der Influencer-Bubble gar nichts anderes übrig bleibt, als auf Standing und Cashflow zu achten. Denn, und da wird es wieder bizarr, viele dieser professionellen Sich-zur-Schau-Steller fahren ein kleines bis mittelständisches Unternehmen vor sich her und bei vielen stellt sich einem schon die Frage, ob diese sich ihrer eigenen Verantwortung diesbezüglich eigentlich bewusst sind.

Da werden Kameraleute, Cutter, persönliche Assistenten und was alles so dazu gehört beschäftigt und eine Personaldecke vorgehalten, die den einen oder anderen Handwerks- oder sogar IT-Betrieb die Tränen in die Augen drücken würden. Immobilien werden ge- und wieder verkauft, sowohl privat als auch gewerblich, und dann per Roomtour der Community präsentiertt, nebst eigenem Fuhrpark. Die Geldsummen, die alleine von einem Gros der großen deutschen Influencer-Bubble bewegt werden dürften, sind vermutlich in der Größenordnung „erschreckend“ anzusiedeln.

Um so erstaunlich ist es, auf welcher Stufe einiger eben dieser herum dilettieren. Wenn man sich bewusst macht, dass der Influencer an sich ja erst einmal das Produkt ist, dass es für ihn/sie/es zu vermarkten gilt, ist es schon verwunderlich, wie oft persönliche Befindlichkeiten, defektes Equipment oder fehlerhafte Planung und Organisation zu Produktionsausfällen führen. Wenn man sich dann noch überlegt, dass sich wieder andere dieser Berufsgruppe selber in den Burn-Out influencen, dann hat man in etwa eine Vorstellung vom durchschnittlichen Verantwortungsbewusstsein und der unternehmerischen Grundethik.

Aber, aber, wird da der eine oder die andere (‚das‘ bekomme ich hier leider aus stilistischen Gründen nicht unter) sagen, du pauschalisiert da ganz ungemein und wirfst vieles in einen Topf. Richtig, werde ich antworten. Wahrscheinlich wäre es korrekter, all das Beschriebene bestimmten Namen zuzuordnen, Belege anzuführen, Referenzen einzubinden, und so weiter und so fort. Alleine, es ist die Mühe nicht wert. Ein kleines Experiment, dass jeder für sich durchführen kann (welches natürlich verfälscht, wenn Ihr Anhänger einer der erwähnten Communities seit – aber in dem Fall findet Ihr mich vermutlich sowieso schon seit dem dritten oder vierten Absatz dieses Traktates kacke):

Nehmt Euch die 20 beliebtesten und größten deutschsprachigen Youtube-Kanäle und schaut Euch wirklich mal die Inhalte an, auch die von Zweit- und Drittkanälen der entsprechenden Influencer. Schaut, wer mit wem was und warum macht, welchen Sinn das ergibt und was denn nun so bahnbrechend anders sein soll, als die Doku- oder Reality-Soap-Formate von RTL(2). Und vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, macht sich der eine oder andere von Euch einmal Gedanken darüber, mit was für konsumierten Inhalten er/sie/es viele, viele Stunden des eigenen Lebens scheinbar „sinnvoll“ füllt.

Natürlich kommt selbst der banalste Blödsinn sauber gestylt daher. Lassen wir das Beauty-Gedöns mal beiseite, dass wurde schon zur Genüge in die Mangel genommen. Gemeinsames Adventskalender-Testen (WTF), „Ich-kann-nicht-kochen-und-mache-nur-Chaos-in-der-Küche-Show“, „Wir-packen-gemeinsam-meine-neuen-Schuhe-aus“, „Schaut-mal-mein-geiles-neues-Auto“, „Ich-kann-jetzt-5km-am-Stück-laufen“, „Wir-filmen-uns-beim-Autofahren-essen-Fastood-und-reden-über-unsere-schwere-Jugend“…ich glaube, wir beenden diese Liste an nicht mehr zu überbietenden Banalitäten hier einfach. Da ist es nun auch nicht verwunderlich, dass auch der sogenannte gemeine Klo-Talk zu den Erfolgs-“Formaten“ gehört. Dabei ist die Redundanz dieser Inhalte mit „völlig überzogen“ noch untertriebe.

„Ist das jetzt wieder eine von diesen standardisierten und unreflektierten Social Media-Kritiken prechtscher Bauart?“ höre ich es in der Rezipientenschaft schon raunen. Nein, dass ist es nicht. Ganz banal könnte man es wie immer mit „Der Markt entscheidet“ formulieren. Der Erfolg gibt den Initiatoren dieser Machwerke ja recht und Youtube, Tiktok und Instagram sind lediglich die Distributionskanalisation dieses geistigen Dünnschisses.

Nur, wo soll uns dieser Rant dann hinführe? Auf die andere Seite, geehrte Leser! Auf die Seite der Empfänger, die sich so euphemistisch immer „die Community“ nennt. Der Fachmann würde sie als mal mehr mal weniger zahlungskräftige Melkkuh bezeichnen. Das ist aber gar nicht der Punkt, auf den ich an dieser Stelle hinaus will. Vielmehr lässt einem die pure Zahlenmagie hinter diesem Panoptikum des Schwachsinns nicht nur rat- und fassungslos zurück. Nein, sie wirft durchaus ein interessant-schockierendes Bild auf den intellektuellen Zustand unserer Gesellschaft. Lassen wir die Social Media Kanäle großer Unternehmen und Produktionen mal beiseite (ÖR, Musik-Labels, Kino und TV, etc.) und schauen uns einfach nur die Abonnementendzahlen, Follower und Inhaltsaufrufe berühmt-berüchtigter vorgeblicher „Einzel“Influencer an, so müsste man auf die Idee kommen, dass jeder Mitbürger dieses Landes und der Nachbarländer, die der deutschen Sprache mächtig sind, gleich mehreren eben dieser folgt. Dem kann man entgegen halten: „Nö“. Wir haben immer noch einen Großteil alternder digitaler Analphabeten (die sogenannte Generation „Kannst Du mal nach meinem PC schauen, ich glaube, ich habe das Internet gelöscht“) sowie einen geringen Teil an Mitmenschen, die sich zwar online bewegen, der allgemeinen Verblödungsmaschine aber konsequent ausweichen.

Folglich muss also ein nicht geringer Teil gleich mehreren Influencern folgen. Schaut man sich dann mal die Klickzahlen auf dem eigentlich Video-Content an und addiert diese auf, stellt man fest: Es muss sehr, sehr, sehr…wenn nicht sogar noch mehr Menschen geben, die ihr bisschen Zeit, welche sie haben, damit totschlägt, die oben fein seziert dargelegten absolut mehrwertfreien Inhalte nebst dazugehörigem Merch zu massenkonsumieren. Und ich meine an dieser Stelle nicht ausschließlich die Gruppe der Pubertiere, die man ja aufgrund ihres eh schon vorübergehend grenzwertigen geistigen Zustandes fast schon entschuldigen kann. Nein, die Konsumentengruppen reicht von Kindergartenkind (die kann man ja mit Youtube so schön ruhig halten) bis zum Neurentner. Der Dreck wird mehr oder weniger gleichmäßig über alle Bevölkerungsgruppen hinweg ausgeschüttet.

Was also ist der Kern, die Quintessenz, die „Summa Summarum“? Relativ simpel: „Unterschichten-TV hat gewonnen“!

Tagtäglich kann man online verfolgen, wie Menschen sich immer noch über die billigen und plakativen Inhalte der Springer-Presse (namentlich „Bild“-Zeitung und Co.) oder über Inhalte und Sendungen diverser TV-Verblödungsanstalten echauffieren. Germanys Next Top Modell im Dschungelcamp wird gefrauentauscht zum Perfekten Promi Dinner im Big Brother Container. Alles gehöriger Nonsens und Idioten-TV, glaubt man der breiten digitalen Kommentarstimme. Trotz allem werden auch diese Inhalte wiedergekäut und dann zum Rudelgucken innerhalb der „Community“ mit dem Influencer als Moderator recycelt und reihen sich damit ein in den absolut sinnfreien zu konsumierenden Content eben dieser Beeinflusser-Maschinerie. Was hat man dem sogenannten Unterschichten-TV nicht alles vorgeworfen: „befriedigt den gemeinen Voyeurismus“, „entblößt Menschen, die die Konsequenzen nicht abschätzen können“, „Lust am Verlierertum“ und noch vieles mehr.

Und jetzt? Jetzt haben wir all dies in vielfach amplifizierter Form mit einer wohl um einiges größeren Zielgruppe, als es sich die Profis in den 90ern hätten jemals vorstellen können. Und der Markt gibt noch wesentlich mehr her, als eine reine Zuschauerquote. Man kann mit diesem Schnodder auch Tassen, T-Shirts und Handyhüllen verkaufen und einen Personenkult erschaffen, der selbst das „Jürgen & Zlatko“-Phänomen der Jahrtausendwende wie einen mickrigen Anfänger-Versuch aussehen lässt.

Die Zeit, die ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer Gesellschaft damit verbringt, sich die eigenen Hirnwindungen von solch sinnfreiem Gewäsch verkalken zu lassen, ist nicht unerheblich. Wir reden hier nicht von Minuten. Für viele ist es eine freizeitfüllende Beschäftigung, die Inhalte all ihrer abonnierten Influencer nach- und aufzuholen.

„Aber kann es Dir nicht egal sein“, könnte jetzt der ein oder andere Leser hier fragen. Könnte es vielleicht, wenn ich als Eremit in irgend einer Höhle in den Bergen wohnen würde und jeglichen Kontakt mit meinen Mit…was auch immer vermeiden könnte. Das ist aber nicht der Fall. Wir müssen in dieser sich selbst geistig verstümmelnden Gesellschaft klar kommen. Wir werden diesen Nicht-Inhalten, diesem Nonsens ausgesetzt, egal ob wir es wollen oder nicht. Denn es ist auch Zeitgeist (wobei da jeder Geist schon lange verflogen ist) und wohl auch „kulturelle“ Referenz, die in der Interaktion mit anderen seltenst ausgeklammert werden kann. Schon gar nicht wenn man Kinder hat, denen man irgendwie verklickern muss, dass vielleicht nicht Alkohol oder Cannabis die Zukunft ihrer Hirnwindungen bedrohen, sondern irgendwelche grenzdebilen Influencer.

Ich mag keine abendfüllenden Diskussionen über den x-ten Minecraft-Influencer oder das y-lonte React auf das z-te „Märchen in asozial“ von… naja, ihr wisst schon.

Das wir mit diesem Müll auch noch ökologischen Schindluder betreiben (noch mehr Social Media-Datacenter mit noch mehr Kapazität für noch mehr digitalen Schmronz) ist da nur noch eine Randnotiz, sogar eine für die, die sich zwar Nachhaltigkeit auf ihre Influencer-Fahne geschrieben haben, aber die Datenleitungen und Server dieser Welt mit jedem unnützen Furz, den sie mitteilen müssen, weiter belasten).

Wessen Lebensinhalt all dies ist und wer dies alles ohne Kritik und Reflexion hinnimmt, der möge gerne auf dieser Straße weiterfahren. Es ist dann genau so Euer Problem, wie wenn Ihr ausschließlich mit Bier, Chips und Fastfood auf der Couch versauert, weil es eigentlich ganz schön ist und dann einfach mit Mitte 30 mit einem Herzkasper aus den Latschen kippt. Jeder ist für den Inhalt seines Lebens selbst verantwortlich.

Aber dann seid bitte so ehrlich und gesteht Euch ein, dass Ihr ein Teil des Problems seid und nicht die Lösung. Wenn Ihr Scheiße fresst und Euch nicht um Euch kümmert, ist der körperliche Verfall keine „Wenn“ sondern eine „Wann“-Frage. Wenn Ihr Eurem Hirn dauerhaft geistigen Müll vorwerft, ist der mentale Effekt derselbe, nur dass Ihr Euch immer noch für fit haltet, weil ihr nicht merkt, wie ihr Euer Hirn langsam verdaut. Euer Output wird allerdings in der Regel dann für andere sehr anstrengend und mitunter sehr ungenießbar.

Und jetzt? Wie geht es weiter? So wie immer. Entscheidet selber, was Ihr daraus macht. Als kleine Anregung meinerseits: Man könnte sich ja auch bei dem Konsum geistigen Futters ein wenig ernährungsbewusster verhalten. Man weiß, das Fast Food ungesund ist, also versucht man es auf ein „unbedenkliches Maß“ zu reduzieren. Man weiß, dass, wenn ich nicht auch nachhaltig einkaufe, ich für Umwelt, Tierhaltung, etc. negative Effekte und nicht nachhaltige Erzeuger unterstütze.

Wäre es nicht geradezu großartig, mit dieser Art von Bewusstsein auch an die eigene mentale Gesundheit heranzugehen oder vielleicht sogar einen Nachhaltigkeitsgedanken für geistigen Zustand der Gesellschaft zu entwickeln? Von Leistung will ich hier noch gar nicht sprechen, denn das würde dann ja schon so etwas wie Training erfordern. Mir persönlich würde es schon reichen, wenn wir den totalen geistigen Herzinfarkt unserer Gesellschaft im besten Fall vermeiden oder zumindest möglichst lange herauszögern könnten, auf das die Idiokratie erst mal weiterhin eine Dystopie bleibe.

Alleine, die aktuelle Realität stimmt mich diesbezüglich ein wenig pessimistisch und nicht nur die 6 Kilogramm, die im Durchschnitt in den letzten zwei Jahren zugenommen wurden, sind ein gesundheitlich-gesellschaftliches Problem, von daher…

…Over & Out. See you in 2023.

Survival Is Insufficient – des Jahres-End-Rant dritter Teil

Es ist Zeit! Zeit für das Finale meines diesjährigen Rants, aber vor allem Zeit mal darüber zu reflektieren, wo wir in den nächsten Wochen, Monaten oder Jahren hin schlittern werden. „Survival Is Insufficient“ – welch Zitat einer ehemaligen Borg-Drohne könnte passender sein. Auch wenn „Überleben“ offenbar momentan der einzig gültige und scheinbar in der breiten Masse akzeptierte Narrativ zu sein scheint, wäre es für den einen oder anderen doch gar nicht mal schlecht, den Kopf zu heben und ein wenig weiter als auf die zwei Meter Straße vor ihm zu Blicken.

„Das Jahr, in dem wir auf Zahlen starrten.“ Auch so ließe sich 2020 zusammenfassen. Selten habe ich eine Bevölkerung außerhalb von Sport- und Wahlgeschehen so fixiert auf Statistiken erlebt. Und ähnlich wurde es auch gehandhabt. Indizes, R-Werte, Hitlisten von Infektionsstandorten, Neuinfektionen pro Tag, Woche, Minute. Diskussionen darüber, wer das bessere Ergebnis, die besseren Zahlen liefern kann. Jeden Morgen der Bericht im Radio bei dem verkündet wurde: 14.312 mehr Infizierte, 545 mehr Tote. Schweden macht es besser, nein schlechter, Österreich hat verloren, die Italiener haben eine harte Klatsche bekommen, wir sind Weltmeister. Alles bis ins kleinste statistische Detail und auf die 10 Nachkommastelle genau berechnet. Der Mehrwert für die breite Masse? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, aber zumindest hat es den Fakt offengelegt, dass wir eklatanten Nachholbedarf in der Bildung beim Umgang mit Statistik haben.

Die Zahlen selbst sollen aber auch gar nicht das Thema sein (Ihr erinnert Euch? Im ersten Teil sagte ich, dass wir uns frühsten in einigen Jahren darüber unterhalten können). Vielmehr hat mich verstöre, wie sehr doch ein Gros der Bevölkerung vor diesen Zahlen saß und darauf starrte und immer noch starrt, wie das Kaninchen auf die Schlange. Diesen Zahlen kann man bis heute – und vermutlich auch noch weit in die nächsten Jahre hinein – einen gewisse göttliche Macht nicht absprechen. Sie entschieden über Mehl-, Nudel- und Klopapierkonsum, haben zu mehr Auseinandersetzungen geführt als Lokalderbies zwischen Dortmund und Schalke oder Frankfurt und Offenbach und haben sogar die Fähigkeit langjährige Freundschaften und Beziehungen zu zerstören. Warum? Weil jeder glaubt, aus diesen Zahlen die ultimativ göttliche Wahrheit herauslesen zu können. Und wenn nicht, dann hat man exponentielle Wachstum „nicht verstanden…“ (siehe Teil II des Rants).

Letztendlich ist es halt, wie mit dem Fahrrad im Straßenverkehr: Man starrt auf die zwei Meter Asphalt genau vor sich und knallt dann in die Stoßstange des LKWs, dessen plötzliches Bremsen man übersehen habt. Aktuell ist jeder mit „Überleben“ und „Leben retten“ beschäftigt. Ist ja auch recht einfach, dieses „Leben retten“. Erreicht man ja durch absolute Passivität. Aber um Lisa Eckhart mal zu zitieren: „Ihr rettet keine Leben. Ich bringt nur niemanden um und das ist doch das Mindeste, was man erwarten darf.“

Die Frage, die sich bei dem Blick auf die metaphorische Schlange aber wohl die Wenigsten stellen (denn das ist aktuell verpönt, da man ja gefälligst mit „Überleben“ beschäftigt zu sein hat). Wie geht es in 10 Metern weiter, in einem Kilometer, in 100 Kilometern? Genau so wenig, wie die eine Seite akzeptiert, dass es eine medizinische Ausnahmesituation ist, weigert sich die andere Seite zu akzeptieren, dass wir gerade an einem radikalen Scheideweg für unser Miteinander stehen und wir unsere Gesellschaft wie wir sie vorher hatten, so nicht mehr zurück bekommen werden. Und nein, sie wird auch nicht besser werden.

Schaut Euch mal um und seit mal ehrlich zu Euch selbst: Wie viele Freundschaften und langjährige Beziehungen in Eurem Umfeld hat dieses Jahr nachhaltig negativ beeinflusst? Wie viele Menschen, die Euch nahe stehen oder nahe gestanden haben, habt ihr inzwischen mental insgeheim als Idioten, Leugner, Extremisten abgestempelt? Wie viele „Freunde“ habt Ihr aus Kontaktlisten und Social-Media Accounts entfernt oder geblockt? Und vor Allem: Traut Ihr Euch noch, mit Bekannten und Freunden offen über die Themen wie unsere Pandemie-Politik, Maßnahmen, etc. zu reden? Oder überlegt ihr Euch sehr genau, was Ihr von Euch gebt, weil Ihr nicht genau wisst, wie der andere tickt und was dessen Meinung ist?

Lasst mich an dieser Stelle absolut ehrlich mit Euch sein: Ich habe dieses Jahr sehr oft erlebt, wie Menschen, teilweise sogar sich sehr nahe stehende, mit diversen Meinungen zu der Situation und den Maßnahmen bei Gesprächen sehr sehr vorsichtig umeinander herum laviert sind. Man wusste ja nie, wie die andere Seite denkt, ob man mit seiner Meinung vielleicht in der Minderheit ist und ob auch nur das leiseste Anklingen einer nicht konformen Meinung zu zwischenmenschlichen Totalkatastrophen führen würde.

Da bleibt mir nur zu sagen: Zu spät! Wir haben es bereits geschafft, eine zwischenmenschliche und soziale Totalkatastrophe herbeizuführen. Wir haben es, auch mit Hilfe der Medien, geschafft, selbst in engsten Freundeskreisen misstrauisch und ängstlich zu agieren. Wir trauen uns nicht mehr, uns offen auszutauschen, weil wir ganz schnell jemanden mit unliebsamer (oder seit diesem Jahr auch gerne „gefährlicher“) Meinung in eine der bereit gestellten Schubladen sortieren: Covidioten, Lockdown-Fetischisten, Querdenker, Nazis, Corona-Leugner, etc.

Es wird sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, zu unterscheiden, ob nur hinterfragt wird, ob eventuell vielleicht nur sogar ein Aspekt von der eigenen Meinung abweicht. Nein, es wurde ein globaler Beißreflex herangezüchtet, etwas, was es in dieser radikalen Form in den letzten Jahrzehnten in diesem Ausmaß nicht gab.

Wir sollten – gerade in unserem Land – eigentlich hellhörig werden, wenn wir selber merken, dass wir bei Gesprächen und Diskussionen mit Freunden, Bekannten, Nachbarn immer vorsichtiger und zurückhaltender bezüglich der eigenen Meinung werden. Könnte der andere denken, dass man die falsche Gesinnung hat? Wem könnte er das erzählen? Und schon sind wir an der Stelle, wo wir eine öffentliche Fassade produzieren, die unsere „Mit“menschen von uns zu sehen bekommen (ja, auch die uns näher stehenden) und wir mit unseren Meinungen und Zweifeln alleine umgehen müssen.

„Survival is Insufficient“ – mit dieser Prämisse bin ich heute gestartet. Und genau hierauf komme ich jetzt zurück. Irgendwann wird die aktuell pandemische Situation vorüber sein (zumindest vorübergehend), dann haben wir sie medizinisch im Griff. Dann mögen die finanziellen Aufräumarbeiten beginnen. Und dann? Die gesellschaftlichen Schäden, die wir hinterlassen haben, werden sich nicht einfach in Nichts auflösen. Die ehemaligen Freunde, die sich gegenseitig als Idioten und asoziale Arschlöcher bezeichnet haben, werden sich nicht einfach wieder in die Arme fallen, denn das, was hier gesät wurde, ist ein grundlegend tiefes Misstrauen. Jemanden, den Ihr für Euch als geistig als Flachpfeife abgestempelt habt, wird es hinterher nicht weniger sein. Die Distanz wird bleiben. Was gedacht wurde, kann nicht ungedacht gemacht werden.

Wir haben es geschafft, entlang vieler Kanten in unserer Gesellschaft Sollbruchstellen entstehen zu lassen. Es ist genau das Gegenteil von dem passiert, was uns unsere Populismuströten gerade verkaufen wollen: Wir sind weder enger zusammen gerückt noch sind wir solidarischer geworden. Im Gegenteil. Wir sind vorsichtig geworden, viele haben eine Fassade aufgebaut, nicht nur die, die der allgemeinen Meinung entgegen, sondern auch die, die der allgemeinen Meinung hinterherlaufen und sich durch besonderen Enthusiasmus beim öffentlichen Ausleben all der Maßnahmen auszeichnen, wenn man dann aber unter sich ist, gerne auch Fünf mal gerade sein lassen.

Die Frage, die sich mir stellt: Will ich in einer solchen Gesellschaft leben, bzw. kann ich es? Es mag extrem klingen, aber überleben ist für mich eben nicht das einzig Entscheidende. Man kann sich an viele Gegebenheiten anpassen, aber es war nie meine Sache, mich nach unten zu orientieren. Jemand, der in einem anderen gesellschaftlichen System aufgewachsen ist, mag damit klar kommen. Aber auch das ist vielfach nicht der Fall, ansonsten hätten wir nicht einen stetigen Strom an Flüchtlingen, die nicht nur Überleben, sondern BESSER leben wollen. Wie ich schon an anderer Stelle schrieb: Ich könnte in einem totalitären System nicht existieren.

Leben ist mehr als die pure Existenz. Viele merken dass hier noch nicht, weil Morgens immer noch ausreichend Nutella und fünf Sorten Wurst auf dem Tisch steht, man sein Hirn immer noch per Videostreaming und Online-Gaming ins Standby schalten kann und man sich selbst immer noch in die Tasche lügt, dass wir das alles ganz toll machen.

Nein, machen wir nicht! Der LKW hat bereits gebremst, wir starren auf die zwei Meter dunklen Asphalt vor uns und rasen auf die Stoßstange zu. Diejenigen, die aktuell einen Blick weiter nach vorne werfen, halten den Mund, weil es gesellschaftlich momentan nicht akzeptiert ist, auf den bevorstehenden Einschlag hinzuweisen. Immerhin sind wir gerade damit beschäftigt, Leben zu retten.

Vermutlich wird sich ein nicht kleiner Teil danach irgendwie mit dem, was wir dann als unsere Gesellschaft bezeichnen vorübergehend arrangieren können. Schön für Euch. Für mich ist es die erwähnte Zahnpasta, die wir da raus gedrückt haben. Wir werden immer mehr von Shitstorms, Twitter-Mobs und öffentlicher Empörung gesteuert und gerade wird das nächste Stockwerk im Konstrukt dieser Mechanismen aufgelegt. Ich will das nicht!

„Survival is Insufficient“ – ein Zitat aus einer Star Trek Voyager-Episode, in der Seven-Of-Nine darüber entscheiden musste, das Leben dreier ehemaliger Borg-Drohnen zu retten, in dem sie sie dazu verdammte, einfach nur im Kollektiv zu existieren, oder ihnen Individualität zuzugestehen, auch wenn dies deren Ableben nach wenigen Monaten zur folge hatte.

Ich habe, genau wie jeder andere auch, keine Ahnung, was das nächste Jahr bringen wird. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir den aktuellen Zustand aufrecht erhalten können oder wann die Menschen an ihre mentalen, körperlichen und wirtschaftlichen Grenzen kommen werden. Ich weiß aber, was dieses Jahr mit vielen von uns gemacht hat, bei einigen bewusst, bei anderen unbewusst.

Was ich mir für 2021 wünsche? Mehr Reflektion, mehr Voraussicht und vor allem, dass viele sehen mögen, dass die Gesellschaft in der wir leben, keine Naturkonstante ist, sondern historisch gewachsen, dass der Grund, warum wir trotz dieser ausgedehnten Pandemie nicht in einem wirtschaftlichen und medizinischem Totaldesaster enden, ein Gemeinschaft ist, die vielleicht doch so viel nicht falsch gemacht hat. Wir sollten vor lauter „Leben retten“ nicht vergessen, dass das auch in Zukunft nur funktioniert, wenn wir leben und nicht nur existieren. Ich möchte nicht in einer Welt voller sozialer Krüppel leben, in der es nur noch darum geht, sich immer wieder nur für Schwarz oder Weiß entscheiden zu müssen und alle anderen Schattierungen zu verdammen, in der ein normatives Sozialpunktesystem durch die Konditionierung der Breiten Masse etabliert und die bloße Existenz zum Dogma erklären wird. Ihr vielleicht?

So, das war‘s. Over & Out 2020. Schauen wir, was uns 2021 so über unsere Mauern wirft. Vielleicht sehen wir uns, in Eurer, meiner oder unserer Welt. It‘s up to you…

Bigotterie für Fortgeschrittene – des Jahres-End-Rant zweiter Teil

Wo war ich gestern stehen geblieben? Ach richtig! Die Tatsache, dass Krisensituationen den wahren Kern einer Gesellschaft oder zumindest Teile einer Gesellschaft gnadenlos offenlegen. Den Katalysator dafür liefern zumeist die Medien in jedweder Form, egal ob On- oder Offline. Sie liefern das Gedankengranulat, welches dann dazu verwendet wird, einen vermeintlichen Diskurs zu führen oder pauschal mit intellektuellen Dumm-Dumm-Geschossen (Wortspiel beabsichtigt!) diesen gnadenlos zu polarisieren. Und damit auch das „Bildungs“bürgertum sich nicht überfordert zeigt, kommt dieses Rohmaterial fast ausschließlich in Form von #Hashtags und kurzen prägnanten Parolen daher.

Es ist wohl kein Geheimnis, dass man durch die Technik der absoluten Reduktion aufs syntaktische Minimum einen Rezipienten beim Verstehen eines Satzes absolut jedwede geistige Leistung abnehmen kann. „Erst zahlen, dann fahren“, so steht es in vielen Parkhäusern an der Wand und offenbar hat sich dieser Minimalismus bisher bewährt. Nebenbei ist die Verwendung eben dieser Technik ein gängiges Mittel jedweder Form von Propaganda, sowohl politischer als auch kommerzieller, gerne auch Werbung genannt. Die moderne Online-Variante dieser Methodik ist der imperative Hashtag: #StayTheFuckHome, #WashYourHands, #DistanceYourself, etc. Das absolut Fantastische an diesen Tags ist, dass man sich damit scheinbar an jedweder Diskussionen beteiligen kann und diese als valide Argumente behandelt werden müssen. „Ich würde gerne über Sinn und Zweck von….“ – „Du hast nichts verstanden, #StayTheFuckHome“. Und jetzt darf jeder gerne mal raten, wer sich bei diesem kurzen Beispiel als „geistig überlegen“ gefühlt hat.

Prinzipiell hat jeder, der über den Kontext und die Inhalte von Hashtags diskutieren will, „nichts verstanden“. Egal ob bei #MeToo, #BlackLiveMatters oder #StopEatingMeat. Die Reduzierung von komplexen und vielleicht zu reflektierenden Sachverhalten auf einige Schlagworte ohne die Notwendigkeit darüber zu reflektieren ist einer der großen Meisterleistungen der (sozialen) Medien. Mechanismen, von denen man glaubte, dass sie in den dunklen Tiefen der Geschichte auf Nimmerwiedersehen entschwunden wären, zeigen sich plötzlich als ausgesprochen funktionell. Und es funktioniert wunderbar und unterbindet jede Form von gedanklicher Nachbetrachtung.

„Jedes Leben zählt.“ So tönte es, von der Bundeskanzlerin, von Söder und von so manch anderer populistischen Opportunistenflöte. Ein schöner Satz, oder? Kurz, prägnant, eingängig, eines Hashtags würdig. Wer will diesem widersprechen, wäre es doch „asozial“ (gute Güte, was heutzutage alles asozial ist) genau dies mal genauer zu durchleuchten und zu hinterfragen. Braucht man aber gar nicht. Diverse Nachrichtensendungen, Portale und Printmedien nehmen einem diese Arbeit gerne ab, man muss nur mal ein wenig weiter lesen, hören oder schauen, als bis zum Schlagwortverzeichnis.

Eigentlich hätte die Tatsache schon gereicht, dass dieser von unserer politischen Elite verzapfte Hashtag genau in dem Zeitraum geprägt wurde, als man sich europaweit in Regierungskreisen darüber stritt, wie man nach dem Auftreten von COVID-Infektionen mit den über 15.000 Flüchtlingen im Lager Moria umzugehen habe. Nein nein, ganz ehrlich, „Jedes Leben zählt!“ Dafür setzen wir 2020 Himmel und Hölle in Bewegung, und zwar in jedem verdammten Land der EU, ach was, weltweit. Aber wir streiten uns Wochen darüber, ob und wie 15.000 Flüchtlinge in Europa verteilt werden könnten. 15.000 geteilt durch 27 (die Anzahl der EU-Mitgliedsstaaten)! Das sind pro Land 555,55 Menschen. Na ja gut, dann vielleicht ein Paar Familien mit Kindern? Alte? Hmm Alte? Nee, das sind schon zu viele, die belasten unser System! Aber jedes Leben zählt. Oder haben wir da was falsch verstanden? Haben wir vergessen, den Relativsatz dahinter zu lesen? Wissen wir nach all den Hashtags überhaupt noch, was ein Relativsatz ist? Hieß es nicht vielleicht „Jedes Leben, welches Steuern zahlen kann, zählt?“ Oder „Jedes Leben, dass uns Wählerstimmen bringt, zählt?“.

Ach so, fast hätte ich es vergessen. Die Diskussion müsste ich ja an dieser Stelle mit dem Phrase „#Whataboutism, Du hast nichts verstanden…“ beenden, oder? Sorry, so funktioniert das nicht, denn die einzig valide Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen der Handlung und dem Gesagten aufzuzeigen, ist diese auf ihre Allgemeingültigkeit zu überprüfen. Wer hier glaubt, so etwas mit „#Whatbaboutism“ unterbinden zu können, der hat nichts verstanden. So ähnlich verhält es sich übrigens mit dem allseits beliebten „Dunning-Kruger-du-hast-keine-Ahnung-glaubst-es-aber“-Totschlagargument. In 90% aller Fälle hält der Diskutant seine argumentative Pistole falsch herum.

Zurück zum Thema: Aber das ist ja nur ein ganz schwaches und singuläres Beispiel könnte man entgegenhalten. Ist es das? Diskutieren wir ganz leise im Hintergrund nicht noch immer darüber, ob und wie viele Flüchtlinge man aus dem Mittelmeer fischt? Genehmigt unsere Regierung nicht immer noch milliardenschwere Waffengeschäfte mit Ländern, deren Definition von zivilisiert nicht unbedingt deckungsgleich mit unserer ist? Haben uns die Epidemien, Bürgerkriege und Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte auch Ansatzweise dazu bewegt, mehr zu tun, als den Zeigefinger zu heben und ein paar Milliönchen locker zu machen, um „das Schlimmste“ abzuwenden? Waren wir auch in diesen Fällen daran interessiert, „jedes Leben“ zu retten, und wenn es nur für ein paar Jahre ist? Oder haben wir all das zu Gelaber verkommen lassen, weil es „nicht hier“ passiert ist?

HIV war der epidemische Schrecken der 80er. Der ein oder andere mag sich noch daran erinnern. Wie kommt es eigentlich, dass wir uns heute und hier darüber keinen oder nur noch sehr wenig Kopf um diese Krankheit machen? Dagegen impfen kann man bis heute schließlich nicht. Nein, aber wir haben inzwischen Therapien, die es ermöglichen, dieses Virus so gut unter Kontrolle zu bringen, dass fast jeder damit ein normales Leben führen kann und bei erfolgreicher Behandlung nicht mal mehr infektiös ist. HIV ist nicht mehr das tödliche Schreckgespenst, dass es für uns alle vor 35 Jahren war. Ja, für UNS. Trotz alle dem sind dieses Jahr wieder ungefähr 1.6 Millionen Menschen weltweit aufgrund von HIV gestorben, so wie jedes Jahr in der vergangenen Dekade auch. Warum? Keine Ahnung. Aber offensichtlich zählt halt doch nicht jedes Leben, sondern nur die, die das Glück haben, im richtigen Land geboren worden zu sein.

„Wenn wir gewollt hätten, hätten wir dieses Virus in den Griff kriegen können.“ Auch eine beliebte Floskel aus den aktuellen Diskussion-Blase. Hätten wir? Es könnte genau so gut auf HIV zutreffen, oder Malaria, oder TBC. Wollten und wollen wir aber anscheinend nicht, weil es hier für den einzelnen kein Problem mehr darstellt und es „woanders“ statt findet. Wenn wir hier sagen „Jedes Leben zählt“ dann steht da eigentlich „unser Leben zählt.“ Die Solidarität geht genau so weit, bis das Problem aus unserem Dunstkreis, aus unserem Sichtfeld verschwunden ist. Wenn WIR unseren Impfstoff haben, dann wird es uns nicht mehr interessieren, ob irgendwo im Südkongo gerade mal wieder eine COVID-Variante durch einen Landstrich tobt und es wird keiner danach fragen, ob „diese Leben zählen“. Warum? Weil es nie anders war.

Der ein oder andere mag mir hier an der Stelle Bigotterie vorwerfen: „Aber du verhältst dich doch genau wie jeder andere auch, dir war es ja auch egal.“ Richtig, ich habe mich wie jeder andere auch verhalten. Ich konnte und kann damit leben. Ich stelle mich aber auch nicht 2020 hin und intoniere dieses Mantra und zwar, weil ich genau weiß, wie verlogen und bigott das ist. Es werden weiter Waffen exportiert werden, es wird weiter diskutiert werden, ob man Flüchtlinge in Lager steckt, verteilt oder einfach im Mittelmeer ersaufen lässt, kein Land der Welt wird einfach mal 1 Milliarde Euro locker machen, um in den Entwicklungsländern zumindest eine dort schwer wiegende Krankheit auszurotten. Auch bei uns wird man, wie bisher, auf die wirtschaftlichste Behandlungsmethode von Krankheiten zurückgreifen und nicht auf die Beste (wenn man es nicht selber bezahlen kann)! Nichts wird sich danach ändern. Warum? Weil es immer schon so war. Und weil es den Meisten heutzutage nicht mehr wert ist als ein wenig heiße Luft in der Social Media Blase.

Solidarität? Gibt es nicht. Oder besser gesagt, sie wird so lange eingefordert, bis sie einem im Weg steht und unbequem wird. Alleine die Diskussion, welche jetzt nach Verfügbarkeit eines Impfstoffes entsteht („wenn ICH geimpft bin will ICH meine Rechte zurück, die anderen kann man dann einschränken, bis sich diese gefälligst auch solidarisch verhalten“) demaskiert eine weitere hässliche Fratze im Kern unserer Gesellschaft. Wahre Solidarität gibt es nicht, denn diese ist bedingungslos und freiwillig. Man kann darum bitten. Sie zu fordern oder gar zu erzwingen ist genau das Gegenteil dieses Konzeptes. Das, was die Allgemeinheit heutzutage darunter versteht, ist lediglich eine Maske für die Sicherung der Eigeninteressen, und sei es nur, um nicht durch irgend ein soziales Raster zu fallen, denn wer sich heutzutage nicht-solidarisch zeigt, bekommt dann in nicht wenigen Fällen den Stempel „asozial“ in sein gesellschaftliches Bonusheft gedrückt, unabhängig von den persönlichen Beweggründen.

Wird dieser zweite Teil meines Jahres-End-Rants irgend etwas ändern? Wird dadurch irgend etwas besser? Mit Sicherheit nicht. Man wird weiter von Hashtags belästigt werden, populistische Floskeln nachplappern, sich nicht darum scheren, was passiert, wenn wir erst mal „unsere Probleme“ im Griff haben (außer natürlich dazu wieder neue Hashtags zu posten und moralisch auf Solidarität pochen). Es dreht sich alles im Kreis und es wäre schon viel gewonnen, wenn der Einzelne sich einmal eingestehen würde, wie verlogen, wie scheinheilig dies doch alles ist.

Bin ich jetzt an dieser Stelle mit meinem Résumé am Ende? Nein! Wie angekündigt hat dieses Jahr genug Material für eine Trilogie (vermutlich sogar für mehr) ausgeworfen.

Wird es gelesen werden? Keine Ahnung, ich habe es ja bisher nicht geschafft aus Teil #1 und Teil #2 einen Hashtag zu kreieren, also vermute ich mal, dass es wohl niemand schaffen wird, bis zu diesem Schlusssatz zu gelangen. Falls doch: Herzlichen Glückwunsch, Du hast es geschafft Dich durch einen meiner Brain-Dumps zu arbeiten, das ist bei weitem nicht jedem gegeben.

Wir lesen uns im dritten und letzten Teil der Tragödie. Und wie wir alle wissen: Tragöden zeichnen sich dadurch aus, dass am Ende alle…na gut, sehr viele…tot sind.

Aber es ist doch Pandamie – des Jahres-End-Rant erster Teil

Da stehe – oder besser gesagt sitze – ich nun, 2020 neigt sich dem End zu und eigentlich habe ich nach den vergangenen 365 Tage nicht mal im Ansatz Lust, meinen jährlichen Jahres-End-Rant zu verfassen. Dabei gäbe es zu diesem, durchaus als absolut beschissen zu bezeichnenden Jahr so einiges aufzuarbeiten. Allerdings erschwert die Tatsache, dass wir in einem Land mit 81 Millionen brillanten Medizinern, Psychologen, Mathematikern, Soziologen und natürlich Bundestrainern leben, die satirisch-zynisch und vor allem öffentliche Auseinandersetzung mit all den virulenten Ereignissen des vergangenen Lenzes doch ungemein, denn wenn wir eines wieder mal gelernt haben, dann ist es doch, dass der Begriff „öffentliche Diskussion“ am Besten als „narzisstischer Monolog mit affirmierten Wahrheitsanspruch“ zu verstehen ist.

Warum also sich gerade dieses Jahr aufs mediale, vom Klimawandel angetaute Glatteis begeben? Nun ja, weil die Herrin des Hauses verlauten lassen hat, dass dieses alljährliche Schreibwerk für sie inzwischen zu einer liebgewordenen Tradition geworden ist und ein Jahresabschluss ohne eben dieses sich als nicht würdig erweisen würde. Dem soll Genüge getan werden, jedoch werde ich es meiner Holden überlassen, ob sie meine Ergüsse textlicher Art, die ich dieses Jahr aufgrund ihres Umfanges (und natürlich nach Geld scheffelndem Disney-Vorbild) mindestens als Trilogie anlegen werde mit der Gemeinde zu teilen gedenkt.

Bevor ich aber richtig in die Weichteile trete, denke ich, dass es sich gerade in diesem Jahr als sinnvoll gestaltet, mit einer Präambel (nee, nicht das Ding, in das man Äppler füllt) zu beginnen: Betrachtet man 2020, so zeigt sich doch ein gewisser Hang zur Monothematisierung. Auch was ich hier textlich von mir geben werde, ist dieser Problematik natürlich unterworfen. Ich werde hier aber nicht von epidemiologischen Eigenschaften eines Virus, Inzidenzen, R-Werten, mRNA, Prävalenzen oder geänderten Teststrategien faseln. Mein medizinisches, biologisches und auch mathematisches Grundwissen ist ausreichen vorhanden um zu wissen, dass ich mir über dass, was medizinisch und biologisch dieses Jahr abgegangen ist und vermutlich noch eine Weile anhalten wird, kein öffentliches Urteil bilden werde. Dafür steht an zu vielen Stellen in zu vielen Berichten, Abhandlungen und Beipackzetteln eine Variante des Begriffs „Unbekannt“. Wer dennoch wissen will, was meine Meinung dazu ist: Kommt in fünf bis acht Jahren wieder, dann können wir uns da gerne drüber austauschen.

Aber wenn es nicht um wissenschaftliche Fakten geht, die wie wir seit diesem Jahr wissen nur aus Naturwissenschaften entspringen dürfen, um was geht es im ersten Teil dieser Tragödie sonst? Recht einfach: China! Ist ja schließlich Panda-mie!

Nein, eigentlich geht es nicht um China direkt, sondern um etwas, was gerade zu Beginn des Jahres und bis heute bei mir immer noch einen mentalen Brechreiz auslöst: Teile unserer Bevölkerung, die eine Lobeshymne auf das Krisenmanagement und in der Extremvariation auch auf das politische System des Reiches der Mitte werfen. „Die haben alles richtig gemacht und alles ganz schnell in den Griff bekommen.“ „In solchen Zeiten ist das chinesische System unserem bei Weitem überlegen.“ „Die Bevölkerung dort ist wenigstens diszipliniert genug um…“, etc. pp.

An dieser Stelle möge der Leser die Lobeshymnen welche mir in verbaler und schriftlicher Form entgegenschlugen, beliebig fortsetzen. Mich ließ es hingegen schwer verstört mit der unumstößlichen Argumentation „Jaaaa…..ähhh….aber nein?!“ zurück.

Menschen aus meinem näheren Umfeld wissen, dass ich vor geraumer Zeit berufsbedingt für einige Monate in Beijing gelebt, gearbeitet und allerhand verstörendes gesehen habe. Aus dieser Zeit existiert noch ein kleines braunes Buch – mein chinesisches Arbeitsvisum – welches ich nach meiner Ausreise eigentlich wieder hätte den dortigen Behörden zurückgeben müssen. Habe ich aber nicht, sondern es als „Mahnmal“ behalten, welches mich immer an die Absurditäten dieses Landes (in vielen Bereichen möchte man gar nicht mehr von Kultur reden) erinnert.

Wo fangen wir an: Die Annahme, dass es irgend einer Macht in China, sei sie wirtschaftlich oder politisch, auch nur annähernd um das Wohl des einzelnen gehen würde, grenzt an eine Realitätsverweigerung ähnlich des Weihnachtsmann-Glaubens. Aber den haben wir ja auch nach China exportiert. Ja, in der „Volks-“Republik geht es um das „Große Ganze“, aber der einzelne ist so austauschbar wie eine Ventilkappe an einem Fahrradreifen. Man hat ja genug davon. Zu polemisch? Nein, die Wahrheit. Wenn der Fensterputzer bei der Arbeit vom Bambusgerüst fällt, dann ist das bedauerlich, aber nicht relevant. Am nächsten Morgen sitzt der nächste auf dem nach unseren sicherheitstechnischen Maßstäben mehr als fragwürdigen Konstrukt. Jede Bushaltestelle hat einen „Fahnenschwenker“, dessen einzige Aufgabe es ist, eine kleine Fahne auf die Straße zu halten, wenn der Bus kommt. Warum? Weil man genügend Menschenmaterial hat, dass ansonsten keine Beschäftigung hätte. Aber das passiert in den anspruchsvolleren Berufen doch nicht, oder? Öhh…doch. Nach der „Golden Week“ (eine Woche voller Feiertage) ist es gar nicht so selten, dass ein Teil der Belegschaften (auch in den „höherwertigen“ Berufen) nicht mehr in ihren Büros erscheint, weil es sich einfach nicht lohnt, die lange Reise von der Familie zurück zum Arbeitsplatz anzutreten. Ist aber nicht weiter problematisch, man hat ja genug Reserve“menschen“.

Wenn man irgend einen Stadtteil oder eine Stadt abriegelt, dann hat das nur bedingt irgend welche Auswirkungen auf die Wirtschaft, denn man hat genug Menschenmaterial in der Hand.

Und da wir schon beim Thema sind: Wer glaubt, die Abriegelung wäre passiert um irgend jemand oder irgendetwas zu schützen: Ja, da liegt ihr richtig, aber leider auf eine sehr unschöne Art und Weise. Man will und wollte keine Menschen schützen, sondern die eigenen Wirtschaftsbeziehungen. Kein Hahn hätte nach einem Virus in Wuhan gekräht, wenn die restliche Welt nicht irgendwann Wind davon bekommen hätte, dass das Ding den Chinesen ausgebüchst ist.

Für die durchschnittliche chinesische Bevölkerung gibt es viele Dinge, die potenziell genau so tödlich oder tödlicher als eine neue Variante eines Virus sind: die Auswirkungen der Luftverschmutzung, unzureichende medizinische Versorgung, eventuell weil man der falschen Bevölkerungsschicht angehört (oder versehentlich zu wenige Sozialpunkte angesammelt hat), der falsche Kommentar oder eine verhängnisvolle Wortmeldung an unpassender Stelle, Zugehörigkeit zur falschen Religion, etc. usw pp. (ihr wisst, wie man Google bedient).

Dies gesagt, kommen wir doch mal zum Thema der viel gepriesenen Disziplin, die man gerne in die Chinesen hineininterpretiert. Mir erscheint, dass denen, die sich eben dies auch für unsere Gesellschaft als Vorbild wünschen, ein paar wenige aber doch entscheidende Details entfallen sind: China richtet jedes Jahr ein geschätzt vierstellige Zahl an Menschen hin und zu den Straftatbeständen zählen nicht nur Mord sondern unter anderem auch Korruption und bisweilen Steuerhinterziehung (die Liste mit Vergehen umfasst etwa 50 Straftatbestände). Jemand mit politisch unliebsamer Meinung wird da auch ganz schnell zum Terroristen oder Spion, je nachdem, wie es einer Provinzregierung gefällt. Und auch für geringere „Vergehen“ sind die Konsequenzen mit Straflager oder sozialem freien Fall als eher schwerwiegend zu betrachten.

Wer in unserem Land also von „chinesischer Disziplin“ faselt und sich ähnliche Verhältnisse auch bei uns wünscht (und sei es auch nur in Krisensituationen), der sollte sich vielleicht mal fragen, ob sein Badewasser auf Dauer deutlich zu heiß war. Ich bin mir ziemlich sicher: 95% der Menschen, die so etwas jetzt als hinnehmbar fordern, würden bereits nach einem Monat nicht-touristischem Aufenthalt in China diverse Psychosen entwickeln (und sei es nur, weil man bei der Rückkehr in seine Geschäftswohnung eine Information vorfindet, am nächsten Tag während der Militärparade die Vorhänge geschlossen zu lassen, weil man sonst unter Umständen nicht dafür garantieren könne, nicht angeschossen zu werden).

Ich bin ehrlich: Der einzige Grund dafür, dass ich diesen Ausflug mental halbwegs unbeschadet überstanden habe, war die Tatsache, dass ich wusste, das es ein beschränkter Zeitraum sein wird und ich jederzeit gehen kann. Nun, nicht ganz richtig: Es gab einen Zeitpunkt, da habe ich nicht gehen können, weil die Behörden für die Erteilung des Arbeitsvisums den Reisepass einige Wochen einbehalten.

Was ist die Moral dieser Geschichte: Eigentlich ist es recht einfach. Es gibt zwei Arten von Menschen, die solche Verhältnisse bei uns fordern. Einmal die, die keine Ahnung haben, was sie da eigentlich von sich geben (davon gibt es ja, wie wir dieses Jahr gelernt haben an allen Ecken und Enden jede Menge) und dann die, die es sehr genau wissen. Und davon haben wir erschreckender Weise doch recht viele, die nicht nur aus den einschlägig verdächtigen Richtungen kommen.

Diesbezüglich war dieses Jahr doch sehr entlarvend. Menschen, die noch letztes Jahr den Staat dafür verdammt haben, dass er ihnen das Internet potenziell weg zensieren könnte oder Zeter und Mordio bei (vermuteter) staatlicher Willkür geschrien haben, sehnen sich plötzlich nach Gesetz und Ordnung. Das wird übrigens mit „Law & Order“ übersetzt und war mal das Feindbild von Menschen, die sich eher einer freiheitlichen politischen Denkweise zugehörig gefühlt haben.

Ach so, falls hier wieder die üblichen Verdächtigen mit irgend einem Totschlagargument (…aber es ist doch Pandamie…) um die Ecke kommen wollen. Nein, darum geht es hier nicht. Es geht nicht darum, ob und welche Regeln es genau jetzt gibt, ob diese sinnvoll und zielführend oder unangebracht sind (wie oben geschrieben, da können wir in fünf Jahren drüber reden) oder eventuell nicht. Es geht um den öffentlichen (ja, auch Euren!) kritischen oder vielleicht gar nicht so kritischen Umgang damit. Ein menschenverachtendes System dafür zu loben, dass es Maßnahmen durchziehen kann, die nur deswegen funktionieren, weil man eben ein menschenverachtendes System hat, ist in etwa so, wie die Autobahndiskussion („war ja nicht alles schlecht“).

Ja, es sterben Menschen, aktuell im Durchschnitt mehr als sonst. Aber wir stellen uns hin und gehen mit dem, was wir an Gesellschaftssystem haben um, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, die auf Dauer und immer so bestand haben wird. Liebe Leute, dass ist ein Irrtum. Ich weiß, dass das durchschnittliche Geschichtsbewusstsein des Einzelnen ungefähr die Dauer einer Meerschweinchenexistenz umfasst (wenn es gut läuft). Dieses warme Wohnzimmer, die Menge an Supermärkte, unser Sozialsystem, all das ist bei weitem nicht perfekt, aber immer noch besser, als dass, was 90% der restlichen Weltbevölkerung zu ertragen haben. Und während andere noch dafür bluten und sterben, auch in solchen Verhältnissen leben zu können, haben wir vergessen, dass die letzten 30-50 Jahre keine Selbstverständlichkeit waren, sondern dass der Weg dorthin mit verdammt vielen Leichen gepflastert war. Ja, auch diverse Weltkriege und Revolutionen gehören dazu.

Also, verdammt noch mal, wenn Ihr fordert, dann macht Euch auch die Konsequenzen dessen klar, was Ihr da fordert und ob es vielleicht nicht doch Zahnpasta sein könnte, die ihr da aus der Tube drückt. Es ist so einfach zu sagen, dass wir am Ende wieder die gleiche Gesellschaft sein werden (oder, wie einige Utopisten glauben, eine bessere) wie vorher, denn dafür muss jetzt keiner von Euch gerade stehen. Aber wie wird es sein, wenn am Ende unsere Gesellschaft nicht mehr die ist, in der wir leben wollen und können? Wer von Euch ist bereit, dass zu reparieren und mit welchem Einsatz?

Im Moment ist alles was von uns verlangt wird, nichts zu tun. Das können viele von uns richtig gut. Auf der Couch sitzen, das Hirn verdauen und Netflix durchzocken. Sauber. Damit macht man alles richtig.

Es sind nicht die guten oder normalen Zeiten, in denen sich das wahre Gesicht des Einzelnen zeigt, sondern die Krisen. Es sind auch die Krisen, die Systeme kollabieren lassen.

Überlegt Euch genau, welche Softwareupdates ihr für das System Gesellschaft installieren wollt und welche sich hinterher nicht mehr rückstandsfrei entfernen lassen sondern zu einer kompletten Neuinstallation führen würden. Irgend ein Rückstand bleibt meistens und dieser bleibt unbemerkt im System, bis er an unpassendster Stelle dafür sorgt, dass ein kleines Problem zum Totalausfall führt.

Lasst mich an dieser Stelle der Tragödie ersten Teil beenden.

Und morgen bei der Maus: Bigotterie für Fortgeschrittene – des Jahres-End-Rant zweiter Teil.