Gewissens-Bilanz 2018 oder die Frage nach der moralischen Überheblichkeit

Es ist genau 12:00 Uhr am 31.12.2018. Ich sitze hier und habe dieses Jahr noch keinen Years-End-Rant verfasst. Warum? Weil es eigentlich nach all den Geschehnissen und Kommentaren der letzten Jahre nicht mehr viel zu sagen und zu schreiben gibt, was nicht irgendwann schon einmal gesagt und geschrieben wurde. Folgerichtig könnte ich hier auch einfach ein “da capo“-Symbol posten und auf “al fine” warten. Alleine, es will mich nicht zufrieden stellen. Deshalb habe ich mich in meine mentalen Tiefen – und natürlich auch Untiefen – begeben, und nach meiner diesjährigen persönlichen Wurzel allen Übels gegraben.

Was ist es also, was mich dieses Jahr beschäftigt und am Meisten aufgeregt hat? Klimakatastrophe? AfD? Rechtsterrorismus? Trump? Zu lange gekochtes Gemüse?
Das sind in der Tat alles höchst unerfreuliche Erscheinungen, aber sich darüber auszulassen würde im Rahmen des hier verwendeten Mediums bedeuten, sich in eine Klärgrube zu erleichtern.
Nein, ich möchte mich an dieser Stelle über ein anderes, mit einigen der oben genannten Unappetitlichkeiten einhergehendes, merkwürdiges Phänomen äußern: dem sogenannten mentalen Moral-Konto und auch die damit verwandten Derivate Moral-Dispo, Kredit und Anlagevermögen genauer beleuchten. Denn genau diese Mechanismen scheinen mir die einzig logische Erklärung für einige sehr bizarre Verhaltensweisen, die mich im Laufe dieses Jahres mehr und mehr irritiert haben. Über moralisches Fingerpointing habe ich mich ja schon in einem meiner vorherigen Beiträge kurz ausgelassen (Wie man sich einen Klimawandel ergoogelt), Zeit also, einen genaueren Blick darauf zu werfen.

Die überaus interessante Situation lässt sich wie üblich mal wieder online in jeglicher Form sozialer oder kommunikativ getriebener Medien beobachten und reproduzieren (sogar deterministisch). Es wird mit der Moral-Keule auf Feuerwerk und Feinstaub hingewiesen und direkt danach folgt das Foto aus dem eigenen Ski-Urlaub (soso), die übliche Tirade gegen Diesel- und SUV Fahrer wird mit einem Post zum eigenen fetten Weihnachtsbraten abgerundet (aha) und dem alljährlichen Bashing gegen Amazon folgt ein Bildnachweis über die persönlich in der Innenstadt mit zig-tausend anderen gleichzeitig begangenen pre- und post-weihnachtlichen Einkauf- und Umtauschaktionen. Natürlich darf dann dort auch der Hinweis nicht darauf fehlen, wie stressig doch die Zeit für die Angestellten im Einzelhandel ist und dass man doch darauf Rücksicht nehmen sollte (auweia). Genau so gut, könnte ich auch über Raucher schreiben, die zu Demos gegen Fluglärm rennen, weil dieser ja so ungesund ist (hmpf) oder Genuss-Spezialisten, die sich ihr hochqualitatives Fleisch über hunderte bis tausende Kilometer anliefern lassen und dann über Touristen in Fliegern und auf Kreuzfahrtschiffen herziehen (argh).
Um es klar zu sagen, jeder der hier aufgezählten Punkte sollte Gegenstand von Diskussionen sein. Der aber immer weiter um sich greifende Tunnelblick, die Scheuklappen-Mentalität, die bei viele dazu führt, dass man, nachdem man auf sein eigenes moralisches Konto eingezahlt hat (Verzicht auf Fleisch, Böller, Amazon, etc. pp), glaubt, woanders dann von dieser Moral abheben oder vielleicht sogar einen Kredit darauf nehmen zu können, geht mir gehörig auf den Senkel. Ebenso die Tatsache, dass jemand, der meint, ein ordentliches Moral-Sümmchen zusammengespart zu haben, sich gegenüber anderen, welche nicht die gleichen  Reichtümer angehäuft haben, überlegen fühlen kann (ein Phänomen, dass sich im realen Finanzmarkt ja auch weit verbreitet hat und lustiger Weise von Moralisten kritisiert wird).
Feuerwerk mag moralisch nicht für alle unbedenklich sein, aber warum sollte es der Ski-Urlaub sein? Massenhaft Touristen, für die Pisten gerodet und Schnee-Kanonen betrieben werden. So ein Urlaubs-Gebiet hat nach einem Winter sicher auch eine hervorragende Ökobilanz. Oder will mir jemand erzählen, dass er oder sie sich ernsthaft damit auseinander setzt, wie nachhaltig das Hotel, der Lift, die Apre-Ski-Bar betrieben wird. Warum glaubt man, dass der böse SUV-herstellende Fließbandarbeiter moralisch verwerflicheres tut, als das Personal an der Fleischtheke im Supermarkt, dass die Nutz- und teilweise auch Massentierhaltung unterstützt, welche dann eventuell wieder vom (SUV fahrenden) Veganer für die Wurzel allen ökologischen Übels ausgemacht wird. Sind Motorräder, Minis und Sportwagen aus transportökonomischer Sicht nicht auch totaler Kokolores und warum wird darüber nicht diskutiert? Interessiert wirklich wen, was der durchschnittliche Verkäufer bei Hugendubel, H&M oder Netto verdient und wer liefert eigentlich die Waren an den Einzelhandel aus? Sind es nicht die gleichen Unternehmen, bei denen Fahrer ausgebeutet werden, wenn das Paket von Amazon kommt? Wenn sie dann an den Einzelhandel geliefert werden, ist diese Diskussion plötzlich nicht mehr relevant. Ist es nicht verlogen, sich über die Menschenrechte in einigen nordafrikanischen oder Golfstaaten aufzuregen und dann dort Urlaub zu machen? Und warum klingt der Satz “Mir geht die Flüchtlichgspolitik in diesem Land auf den Zeiger, ich wandere aus.” so verdammt hirnverbrannt.

Interessant ist auch, dass man immer der ganzen Welt seine Moral-Einzahlungen mitteilen muss, da sie eventuell sonst nichts wert sind?! Da ließt man dann auf Facebook dass Max Muster (wer sich angesprochen fühlt, möge bitte seinen Namen hier einsetzen) an “Verzicht auf Feuerwerk 2019” teilnimmt und die Kommentarspalten bei tageschau.de und Zeit Online sind bei Artikeln über Streiks bei Amazon voll mit “Ich habe da noch nie was bestellt”-Kommentaren. Der Mehrwert solcher Auslassungen konvergiert gegen Null, es wird unnützer Datenverkehr erzeugt, der wiederum ökologisch gar nicht so gut….. naja, ihr wisst bescheid.
Vermutlich ist es wesentlich wichtiger der Welt mitzuteilen, wie man handelt, anstelle einfach nur zu handeln. Würde die Masse an Kommentaren einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft darstellen, dann müssten wir vermutlich einige der Probleme nicht mal diskutieren. Offensichtlich ist das aber nicht so, was nur den Schluss zulässt, dass das, was Online abgesondert wird, nicht von einer repräsentativen Menge her stammt oder nichts anderes als leeres Gewäsch ist. Beide Szenarien finde ich übrigens durchaus bedenklich.

Zurück zum eigentlichen Kern: Es gibt kein moralisches Konto, keine Bilanz, keinen Ausgleich. Wenn ihr glaubt, dass ihr Euch auf der einen Seite gut und richtig verhaltet, dann ist das schön. Für Euch und wenn Ihr richtig liegt, vielleicht auch für viele andere. Aber dass gibt Euch keinen Vorsprung oder Kredit, denn ihr anderweitig aufbrauchen könnt und schon gar nicht macht es Euch irgend jemand anders gegenüber überlegen. Ihr wisst nicht, wie der oder die andere lebt, sich verhält, welchen eigenen Regeln und welchem Moral-Kompass dieses Person folgt. Vielleicht ist es nur dieser eine Aspekt, welcher Euch genau aufstößt, aber vielleicht wäre Euch diese Person wenn Ihr Euer eigenes Maß anlegen würdet, moralisch überlegen. Und nun? Hätte irgend jemand irgend etwas gewonnen?

Das einzige, was wir mit einer genau solchen Einstellung wirklich erreichen, ist eine weitere Spaltung in Wir und Die! Absurder Weise ist es sehr oft genau das, was diejenigen, die ihr handeln als moralisch betrachten, eigentlich vermeiden wollten. Vielleicht ist es ja auch eine Chance, mal seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen, etwas tiefer zu graben und zu schauen, ob dass, was ich mir da in meiner Moral und meiner Weltanschauung zusammenreime, einer tieferen Überprüfung standhält. Am Ende ist der eigene Standpunkt vielleicht nicht so absolut, wie man ihn selber gerne hätte oder es sich vorgestellt hat und die “dunkle Seite” vielleicht nicht so weit entfernt, wie man immer dachte und/oder gehofft hat. Vielleicht muss man sich auch ab und an einen Schritt bewegen, sich in der Mitte treffen, eigene Vorstellungen über Bord werfen. Kurzum: einen Kompromiss finden. An dieser Stelle lohnt es sich dieses Jahr, Dieter Nuhrs abschließenden Satz aus seinem Jahresrückblick 2018 zu ziteren:

“Den Zustand, im Kompromiss zu leben, nennt man Zivilisation”

Over and out
See you in 2019

Wie man sich einen Klimawandel ergoogelt

Ich gebe zu: die gewählte Überschrift ist wohl provokant, zumindest in der heutigen Zeit. Der Leser mag angesichts dieser Formulierung schon wieder an Fake News, alternative Fakten und Klimawandelleugnung denken und bereits die argumentative Artillerie in Stellung bringen, um das hier geschriebene in Stücke zu schießen. Mit diesem Beißreflex muss man heutzutage wohl leben, von daher möchte ich dem geneigten Rezipienten von vorne herein versichern, dass es genau darum nicht geht. Also dreimal tief durchatmen und sich dann einer vielleicht noch viel unbequemeren Wahrheit stellen…

Der diesjährige Klimagipfel ist noch nicht einmal richtig Geschichte und schon überschlagen sich auf sozialen Plattformen, Foren und Blogs wieder Beiträge zur unmittelbar morgen früh eintretenden Klimapokalypse. Der Tenor ist allgemein bekannt, die Menschheit hat es mal wieder verkackt und wenn wir nicht innerhalb von 24 Stunden sämtlichen CO2-Ausstoß im Kern ersticken (hoho), werden wir alle untergehen. Da wird dann stolz und im Brustton der Überzeugung runtergebetet, zu welchem Verzicht man doch alles bereit ist und wie man sich doch selber geißelt um dem Klimawandel entgegenzuwirken (sinngemäß: “Ich unterstütze die Massentierhaltung nicht, ich bestelle meinen hochqualitativen Schinken in Spanien bei einem Spezialitätenversandt” – ist klar, merkste selber, oder?). Richtig absurd wird es dann, wenn solche Diskussionen zum Beispiel in einem Triathlon-Forum geführt werden, wo sich Menschen rum treiben, die wohl rein vom ökologischen Fußabdruck her eine der am wenigsten umweltfreundlichen Sportarten schlechthin ausüben dürften (man fliegt in Trainingslager, lässt sich High-End-Gadgets aus aller Welt herbeischiffen und über den Footprint der Logistik eines Ironman- oder Challenge-Rennen möchte ich gar nicht erst nachdenken).
Natürlich sind die primären Klimasünder sofort ausgemacht: Flug- und Schiffsverkehr, zunehmender Autoverkehr (und natürlich ganz besonders die bösen SUV-Fahrer), Massentierhaltung und die Verweigerung vegetarischer Lebensgewohnheiten, die Weigerung schneller aus der Kohlekraft aus zusteigen, etc. pp… Den meisten Lesern dürfte diese Aufzählung geläufig sein. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht anzweifeln, dass hinter all dem einiges an Wahrheit steckt, jedoch leider auch mal wieder eine gehörige Portion Bigotterie.

Es wird nämlich gerne vergessen, dass man zum diskutieren und weltverbessern sich gerade selber eines ökologisch hoch brisantem Mediums bedient. Und auf dieses wollen wir alle wohl nicht mehr verzichten. Smartphones, Tablets, PCs, Social Media, Blogs, Foren und vor allem (Google) Suchanfragen – all dass sind Dinge die Datenverkehr produzieren und dies nicht zu knapp. Und auch wenn der Datenverkehr die Treibhausgase nicht direkt in die Atmosphäre bläst, so ist er doch aktuell für den Ausstoß von etwa 2% des Gesamtvolumens eben dieser verantwortlich (Every Google search results in CO2 emissions. This real-time data viz shows how much).
Das hört sich überschaubar an, ist aber in etwa die gleiche Menge, die auch die gesamte Luftfahrtindustrie pro Jahr produziert. Prognosen für die kommen Jahre gehen davon aus, dass dieser Ausstoß mit weiterhin zunehmender Digitalisierung sich auf 3-4% erhöht. Das wäre eine Verdoppelung und da schafft es dann nicht mal der Flugverkehr trotz optimistischer Wachstumsprognose mitzuhalten. Da mutet es schon ein wenig absurd an, dass man in Firmen gerne die Videokonferenz als ökologisch probates Mittel gegenüber dem persönlichen Meeting und den damit verbundenen Reiseaufwänden propagiert.
Das mag auf den ersten Blick eventuell sogar richtig sein, die Tatsache dass das scheinbar ökologischere Modell dann aber gedanken- und bedenkenlos wesentlicher extensiver genutzt wird (gefühlt hängt man heutzutage bei großen Unternehmen ja in Dauer-Skype- oder Videokonferenzen) zeigt halt doch wieder recht deutlich ein Muster, auf dass wir immer und immer wieder reinfallen: Wenn es zu abstrakt wird oder die Konsequenz es erfordert, eine Ecke weiter als üblich zu denken, sind wir im Allgemeinen überfordert.
Der Strom kommt eben nicht aus der Steckdose und nur weil etwas elektrisch und nicht mit Verbrennungsmotor (oder ähnlichem) betrieben wird, ist es nicht automatisch ökologisch und schon gar nicht klimaneutral. Indirektionen, die abstrakte Ideen wie Datenströme auf Umweltbelastung abbilden, sind dann für viele überhaupt nicht mehr zu begreifen und die Tatsache, dass das normale monatliche Google-Verhalten oder auch der Klick auf den Facebook-Like-Button dafür ausreicht, das Schadstoffäquivalent einer Autofahrt von ein bis zwei Meilen zu produzieren, lässt am Ende wohl die Synapsen eines jeden radikalen Umwelt-Radlers kollabieren.

Was heißt dass also im Umkehrschluss?
Letztendlich doch nur folgendes: Dieses andauernde Finger-Pointing auf die vermeintlich Schuldigen, dass ständige Isolieren, Runterbrechen, Simplifizieren auf scheinbar Offensichtliches, hilft in dieser ganzen Diskussion nur bedingt. Es sind nicht die Flugreisenden oder die Schiffsfahrenden, nicht die Diesel- oder SUV-Fahrer, die Fleischesser oder die Touristen, auf die man zeigen kann, weil man selber glaubt, alles richtig zu machen, während man seinen moralisierenden Beitrag für Facebook oder sonst eine Plattform verfasst. Wir könnten genauso gut einfach das Datenvolumen, dass einem Nutzer im Monat zusteht auf einen Gigabyte oder weniger reduzieren (inklusive Musik- oder Video-Streaming), die Anzahl der Suchanfragen, überhaupt die Anzahl der datenkonsumierenden- und produzierenden Geräte pro Haushalt und pro Unternehmen (was dann natürlich wieder zu einem erhöhten Datenaustausch über analoge Wege führt – Post, Auto, Dienstreisen, was dann wiederum…usw. usf.)
Da ist dann dass Geschrei aber auch wieder groß (erstaunlicherweise meistens auch von denen, die ansonsten gerne den Verzicht predigen), meistens mit dem Hinweis und großen Klagelaute über die Tatsache verbunden, dass Deutschland ja sowieso digitales Brachland ist, weil wir es nicht mal schaffen, flächendeckende Mobilfunktnetzabdeckung mit Highspeed-Internet anzubieten. Irgendwie schon sehr verlogen, oder?

Es ist nicht damit getan, dass wir nur verlangen auf dieses zu verzichten und jenes abzuschalten oder abzuschaffen (vorzugsweise natürlich immer das, was uns selber am wenigsten stört und am wenigsten beeinträchtigt). Genauso wenig können wir verlangen, dass andere ihr Streben nach dem gleichen Lebensstandard, wie wir ihn haben, aufgeben. Es ist immer einfacher Verzicht genau dann zu üben, wenn man bereits viel hat.

Was bedeutet das am Ende? Vermutlich nur, dass wir die Büchse der Pandora so erstmal nicht mehr zubekommen. Nicht damit, dass ständig bei irgend welchen Klimakonferenzen irgend welche abstrakten Ziele mit teilweise wüst aktionistischem Handeln eben nicht eingehalten werden können. Auch nicht damit, dass wir die Moralkeule schwingen und glauben, dass wir bei unserem Handeln die Übersicht haben, welche Folgen es für wen oder was hat. 
Hätte ich eine Lösung für dieses Problem, dann würde ich nicht hier sitzen und diese Zeilen schreiben. Vielleicht müssen wir auch einfach mal hinnehmen, dass wir jetzt aktuell und in diesem Moment noch keine Lösung gefunden haben, wie wir  mit dem Klimawandel umgehen sollten. Das einzige was ich weiß ist, dass die Antworten auf die komplexen Fragen eben nicht so einfach sind wie “E-Auto, Fleisch-Verzicht, Ökostrom”, denn wenn man sich immer nur auf das scheinbar Offensichtliche konzentriert, rutscht einem vielleicht auch mal die nicht ganz so offensichtliche Antwort und damit eine mögliche Lösung durch die Finger.

In diesem Sinne,
be responsible and think before you google…