Wo war ich gestern stehen geblieben? Ach richtig! Die Tatsache, dass Krisensituationen den wahren Kern einer Gesellschaft oder zumindest Teile einer Gesellschaft gnadenlos offenlegen. Den Katalysator dafür liefern zumeist die Medien in jedweder Form, egal ob On- oder Offline. Sie liefern das Gedankengranulat, welches dann dazu verwendet wird, einen vermeintlichen Diskurs zu führen oder pauschal mit intellektuellen Dumm-Dumm-Geschossen (Wortspiel beabsichtigt!) diesen gnadenlos zu polarisieren. Und damit auch das „Bildungs“bürgertum sich nicht überfordert zeigt, kommt dieses Rohmaterial fast ausschließlich in Form von #Hashtags und kurzen prägnanten Parolen daher.
Es ist wohl kein Geheimnis, dass man durch die Technik der absoluten Reduktion aufs syntaktische Minimum einen Rezipienten beim Verstehen eines Satzes absolut jedwede geistige Leistung abnehmen kann. „Erst zahlen, dann fahren“, so steht es in vielen Parkhäusern an der Wand und offenbar hat sich dieser Minimalismus bisher bewährt. Nebenbei ist die Verwendung eben dieser Technik ein gängiges Mittel jedweder Form von Propaganda, sowohl politischer als auch kommerzieller, gerne auch Werbung genannt. Die moderne Online-Variante dieser Methodik ist der imperative Hashtag: #StayTheFuckHome, #WashYourHands, #DistanceYourself, etc. Das absolut Fantastische an diesen Tags ist, dass man sich damit scheinbar an jedweder Diskussionen beteiligen kann und diese als valide Argumente behandelt werden müssen. „Ich würde gerne über Sinn und Zweck von….“ – „Du hast nichts verstanden, #StayTheFuckHome“. Und jetzt darf jeder gerne mal raten, wer sich bei diesem kurzen Beispiel als „geistig überlegen“ gefühlt hat.
Prinzipiell hat jeder, der über den Kontext und die Inhalte von Hashtags diskutieren will, „nichts verstanden“. Egal ob bei #MeToo, #BlackLiveMatters oder #StopEatingMeat. Die Reduzierung von komplexen und vielleicht zu reflektierenden Sachverhalten auf einige Schlagworte ohne die Notwendigkeit darüber zu reflektieren ist einer der großen Meisterleistungen der (sozialen) Medien. Mechanismen, von denen man glaubte, dass sie in den dunklen Tiefen der Geschichte auf Nimmerwiedersehen entschwunden wären, zeigen sich plötzlich als ausgesprochen funktionell. Und es funktioniert wunderbar und unterbindet jede Form von gedanklicher Nachbetrachtung.
„Jedes Leben zählt.“ So tönte es, von der Bundeskanzlerin, von Söder und von so manch anderer populistischen Opportunistenflöte. Ein schöner Satz, oder? Kurz, prägnant, eingängig, eines Hashtags würdig. Wer will diesem widersprechen, wäre es doch „asozial“ (gute Güte, was heutzutage alles asozial ist) genau dies mal genauer zu durchleuchten und zu hinterfragen. Braucht man aber gar nicht. Diverse Nachrichtensendungen, Portale und Printmedien nehmen einem diese Arbeit gerne ab, man muss nur mal ein wenig weiter lesen, hören oder schauen, als bis zum Schlagwortverzeichnis.
Eigentlich hätte die Tatsache schon gereicht, dass dieser von unserer politischen Elite verzapfte Hashtag genau in dem Zeitraum geprägt wurde, als man sich europaweit in Regierungskreisen darüber stritt, wie man nach dem Auftreten von COVID-Infektionen mit den über 15.000 Flüchtlingen im Lager Moria umzugehen habe. Nein nein, ganz ehrlich, „Jedes Leben zählt!“ Dafür setzen wir 2020 Himmel und Hölle in Bewegung, und zwar in jedem verdammten Land der EU, ach was, weltweit. Aber wir streiten uns Wochen darüber, ob und wie 15.000 Flüchtlinge in Europa verteilt werden könnten. 15.000 geteilt durch 27 (die Anzahl der EU-Mitgliedsstaaten)! Das sind pro Land 555,55 Menschen. Na ja gut, dann vielleicht ein Paar Familien mit Kindern? Alte? Hmm Alte? Nee, das sind schon zu viele, die belasten unser System! Aber jedes Leben zählt. Oder haben wir da was falsch verstanden? Haben wir vergessen, den Relativsatz dahinter zu lesen? Wissen wir nach all den Hashtags überhaupt noch, was ein Relativsatz ist? Hieß es nicht vielleicht „Jedes Leben, welches Steuern zahlen kann, zählt?“ Oder „Jedes Leben, dass uns Wählerstimmen bringt, zählt?“.
Ach so, fast hätte ich es vergessen. Die Diskussion müsste ich ja an dieser Stelle mit dem Phrase „#Whataboutism, Du hast nichts verstanden…“ beenden, oder? Sorry, so funktioniert das nicht, denn die einzig valide Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen der Handlung und dem Gesagten aufzuzeigen, ist diese auf ihre Allgemeingültigkeit zu überprüfen. Wer hier glaubt, so etwas mit „#Whatbaboutism“ unterbinden zu können, der hat nichts verstanden. So ähnlich verhält es sich übrigens mit dem allseits beliebten „Dunning-Kruger-du-hast-keine-Ahnung-glaubst-es-aber“-Totschlagargument. In 90% aller Fälle hält der Diskutant seine argumentative Pistole falsch herum.
Zurück zum Thema: Aber das ist ja nur ein ganz schwaches und singuläres Beispiel könnte man entgegenhalten. Ist es das? Diskutieren wir ganz leise im Hintergrund nicht noch immer darüber, ob und wie viele Flüchtlinge man aus dem Mittelmeer fischt? Genehmigt unsere Regierung nicht immer noch milliardenschwere Waffengeschäfte mit Ländern, deren Definition von zivilisiert nicht unbedingt deckungsgleich mit unserer ist? Haben uns die Epidemien, Bürgerkriege und Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte auch Ansatzweise dazu bewegt, mehr zu tun, als den Zeigefinger zu heben und ein paar Milliönchen locker zu machen, um „das Schlimmste“ abzuwenden? Waren wir auch in diesen Fällen daran interessiert, „jedes Leben“ zu retten, und wenn es nur für ein paar Jahre ist? Oder haben wir all das zu Gelaber verkommen lassen, weil es „nicht hier“ passiert ist?
HIV war der epidemische Schrecken der 80er. Der ein oder andere mag sich noch daran erinnern. Wie kommt es eigentlich, dass wir uns heute und hier darüber keinen oder nur noch sehr wenig Kopf um diese Krankheit machen? Dagegen impfen kann man bis heute schließlich nicht. Nein, aber wir haben inzwischen Therapien, die es ermöglichen, dieses Virus so gut unter Kontrolle zu bringen, dass fast jeder damit ein normales Leben führen kann und bei erfolgreicher Behandlung nicht mal mehr infektiös ist. HIV ist nicht mehr das tödliche Schreckgespenst, dass es für uns alle vor 35 Jahren war. Ja, für UNS. Trotz alle dem sind dieses Jahr wieder ungefähr 1.6 Millionen Menschen weltweit aufgrund von HIV gestorben, so wie jedes Jahr in der vergangenen Dekade auch. Warum? Keine Ahnung. Aber offensichtlich zählt halt doch nicht jedes Leben, sondern nur die, die das Glück haben, im richtigen Land geboren worden zu sein.
„Wenn wir gewollt hätten, hätten wir dieses Virus in den Griff kriegen können.“ Auch eine beliebte Floskel aus den aktuellen Diskussion-Blase. Hätten wir? Es könnte genau so gut auf HIV zutreffen, oder Malaria, oder TBC. Wollten und wollen wir aber anscheinend nicht, weil es hier für den einzelnen kein Problem mehr darstellt und es „woanders“ statt findet. Wenn wir hier sagen „Jedes Leben zählt“ dann steht da eigentlich „unser Leben zählt.“ Die Solidarität geht genau so weit, bis das Problem aus unserem Dunstkreis, aus unserem Sichtfeld verschwunden ist. Wenn WIR unseren Impfstoff haben, dann wird es uns nicht mehr interessieren, ob irgendwo im Südkongo gerade mal wieder eine COVID-Variante durch einen Landstrich tobt und es wird keiner danach fragen, ob „diese Leben zählen“. Warum? Weil es nie anders war.
Der ein oder andere mag mir hier an der Stelle Bigotterie vorwerfen: „Aber du verhältst dich doch genau wie jeder andere auch, dir war es ja auch egal.“ Richtig, ich habe mich wie jeder andere auch verhalten. Ich konnte und kann damit leben. Ich stelle mich aber auch nicht 2020 hin und intoniere dieses Mantra und zwar, weil ich genau weiß, wie verlogen und bigott das ist. Es werden weiter Waffen exportiert werden, es wird weiter diskutiert werden, ob man Flüchtlinge in Lager steckt, verteilt oder einfach im Mittelmeer ersaufen lässt, kein Land der Welt wird einfach mal 1 Milliarde Euro locker machen, um in den Entwicklungsländern zumindest eine dort schwer wiegende Krankheit auszurotten. Auch bei uns wird man, wie bisher, auf die wirtschaftlichste Behandlungsmethode von Krankheiten zurückgreifen und nicht auf die Beste (wenn man es nicht selber bezahlen kann)! Nichts wird sich danach ändern. Warum? Weil es immer schon so war. Und weil es den Meisten heutzutage nicht mehr wert ist als ein wenig heiße Luft in der Social Media Blase.
Solidarität? Gibt es nicht. Oder besser gesagt, sie wird so lange eingefordert, bis sie einem im Weg steht und unbequem wird. Alleine die Diskussion, welche jetzt nach Verfügbarkeit eines Impfstoffes entsteht („wenn ICH geimpft bin will ICH meine Rechte zurück, die anderen kann man dann einschränken, bis sich diese gefälligst auch solidarisch verhalten“) demaskiert eine weitere hässliche Fratze im Kern unserer Gesellschaft. Wahre Solidarität gibt es nicht, denn diese ist bedingungslos und freiwillig. Man kann darum bitten. Sie zu fordern oder gar zu erzwingen ist genau das Gegenteil dieses Konzeptes. Das, was die Allgemeinheit heutzutage darunter versteht, ist lediglich eine Maske für die Sicherung der Eigeninteressen, und sei es nur, um nicht durch irgend ein soziales Raster zu fallen, denn wer sich heutzutage nicht-solidarisch zeigt, bekommt dann in nicht wenigen Fällen den Stempel „asozial“ in sein gesellschaftliches Bonusheft gedrückt, unabhängig von den persönlichen Beweggründen.
Wird dieser zweite Teil meines Jahres-End-Rants irgend etwas ändern? Wird dadurch irgend etwas besser? Mit Sicherheit nicht. Man wird weiter von Hashtags belästigt werden, populistische Floskeln nachplappern, sich nicht darum scheren, was passiert, wenn wir erst mal „unsere Probleme“ im Griff haben (außer natürlich dazu wieder neue Hashtags zu posten und moralisch auf Solidarität pochen). Es dreht sich alles im Kreis und es wäre schon viel gewonnen, wenn der Einzelne sich einmal eingestehen würde, wie verlogen, wie scheinheilig dies doch alles ist.
Bin ich jetzt an dieser Stelle mit meinem Résumé am Ende? Nein! Wie angekündigt hat dieses Jahr genug Material für eine Trilogie (vermutlich sogar für mehr) ausgeworfen.
Wird es gelesen werden? Keine Ahnung, ich habe es ja bisher nicht geschafft aus Teil #1 und Teil #2 einen Hashtag zu kreieren, also vermute ich mal, dass es wohl niemand schaffen wird, bis zu diesem Schlusssatz zu gelangen. Falls doch: Herzlichen Glückwunsch, Du hast es geschafft Dich durch einen meiner Brain-Dumps zu arbeiten, das ist bei weitem nicht jedem gegeben.
Wir lesen uns im dritten und letzten Teil der Tragödie. Und wie wir alle wissen: Tragöden zeichnen sich dadurch aus, dass am Ende alle…na gut, sehr viele…tot sind.