Survival Is Insufficient – des Jahres-End-Rant dritter Teil

Es ist Zeit! Zeit für das Finale meines diesjährigen Rants, aber vor allem Zeit mal darüber zu reflektieren, wo wir in den nächsten Wochen, Monaten oder Jahren hin schlittern werden. „Survival Is Insufficient“ – welch Zitat einer ehemaligen Borg-Drohne könnte passender sein. Auch wenn „Überleben“ offenbar momentan der einzig gültige und scheinbar in der breiten Masse akzeptierte Narrativ zu sein scheint, wäre es für den einen oder anderen doch gar nicht mal schlecht, den Kopf zu heben und ein wenig weiter als auf die zwei Meter Straße vor ihm zu Blicken.

„Das Jahr, in dem wir auf Zahlen starrten.“ Auch so ließe sich 2020 zusammenfassen. Selten habe ich eine Bevölkerung außerhalb von Sport- und Wahlgeschehen so fixiert auf Statistiken erlebt. Und ähnlich wurde es auch gehandhabt. Indizes, R-Werte, Hitlisten von Infektionsstandorten, Neuinfektionen pro Tag, Woche, Minute. Diskussionen darüber, wer das bessere Ergebnis, die besseren Zahlen liefern kann. Jeden Morgen der Bericht im Radio bei dem verkündet wurde: 14.312 mehr Infizierte, 545 mehr Tote. Schweden macht es besser, nein schlechter, Österreich hat verloren, die Italiener haben eine harte Klatsche bekommen, wir sind Weltmeister. Alles bis ins kleinste statistische Detail und auf die 10 Nachkommastelle genau berechnet. Der Mehrwert für die breite Masse? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, aber zumindest hat es den Fakt offengelegt, dass wir eklatanten Nachholbedarf in der Bildung beim Umgang mit Statistik haben.

Die Zahlen selbst sollen aber auch gar nicht das Thema sein (Ihr erinnert Euch? Im ersten Teil sagte ich, dass wir uns frühsten in einigen Jahren darüber unterhalten können). Vielmehr hat mich verstöre, wie sehr doch ein Gros der Bevölkerung vor diesen Zahlen saß und darauf starrte und immer noch starrt, wie das Kaninchen auf die Schlange. Diesen Zahlen kann man bis heute – und vermutlich auch noch weit in die nächsten Jahre hinein – einen gewisse göttliche Macht nicht absprechen. Sie entschieden über Mehl-, Nudel- und Klopapierkonsum, haben zu mehr Auseinandersetzungen geführt als Lokalderbies zwischen Dortmund und Schalke oder Frankfurt und Offenbach und haben sogar die Fähigkeit langjährige Freundschaften und Beziehungen zu zerstören. Warum? Weil jeder glaubt, aus diesen Zahlen die ultimativ göttliche Wahrheit herauslesen zu können. Und wenn nicht, dann hat man exponentielle Wachstum „nicht verstanden…“ (siehe Teil II des Rants).

Letztendlich ist es halt, wie mit dem Fahrrad im Straßenverkehr: Man starrt auf die zwei Meter Asphalt genau vor sich und knallt dann in die Stoßstange des LKWs, dessen plötzliches Bremsen man übersehen habt. Aktuell ist jeder mit „Überleben“ und „Leben retten“ beschäftigt. Ist ja auch recht einfach, dieses „Leben retten“. Erreicht man ja durch absolute Passivität. Aber um Lisa Eckhart mal zu zitieren: „Ihr rettet keine Leben. Ich bringt nur niemanden um und das ist doch das Mindeste, was man erwarten darf.“

Die Frage, die sich bei dem Blick auf die metaphorische Schlange aber wohl die Wenigsten stellen (denn das ist aktuell verpönt, da man ja gefälligst mit „Überleben“ beschäftigt zu sein hat). Wie geht es in 10 Metern weiter, in einem Kilometer, in 100 Kilometern? Genau so wenig, wie die eine Seite akzeptiert, dass es eine medizinische Ausnahmesituation ist, weigert sich die andere Seite zu akzeptieren, dass wir gerade an einem radikalen Scheideweg für unser Miteinander stehen und wir unsere Gesellschaft wie wir sie vorher hatten, so nicht mehr zurück bekommen werden. Und nein, sie wird auch nicht besser werden.

Schaut Euch mal um und seit mal ehrlich zu Euch selbst: Wie viele Freundschaften und langjährige Beziehungen in Eurem Umfeld hat dieses Jahr nachhaltig negativ beeinflusst? Wie viele Menschen, die Euch nahe stehen oder nahe gestanden haben, habt ihr inzwischen mental insgeheim als Idioten, Leugner, Extremisten abgestempelt? Wie viele „Freunde“ habt Ihr aus Kontaktlisten und Social-Media Accounts entfernt oder geblockt? Und vor Allem: Traut Ihr Euch noch, mit Bekannten und Freunden offen über die Themen wie unsere Pandemie-Politik, Maßnahmen, etc. zu reden? Oder überlegt ihr Euch sehr genau, was Ihr von Euch gebt, weil Ihr nicht genau wisst, wie der andere tickt und was dessen Meinung ist?

Lasst mich an dieser Stelle absolut ehrlich mit Euch sein: Ich habe dieses Jahr sehr oft erlebt, wie Menschen, teilweise sogar sich sehr nahe stehende, mit diversen Meinungen zu der Situation und den Maßnahmen bei Gesprächen sehr sehr vorsichtig umeinander herum laviert sind. Man wusste ja nie, wie die andere Seite denkt, ob man mit seiner Meinung vielleicht in der Minderheit ist und ob auch nur das leiseste Anklingen einer nicht konformen Meinung zu zwischenmenschlichen Totalkatastrophen führen würde.

Da bleibt mir nur zu sagen: Zu spät! Wir haben es bereits geschafft, eine zwischenmenschliche und soziale Totalkatastrophe herbeizuführen. Wir haben es, auch mit Hilfe der Medien, geschafft, selbst in engsten Freundeskreisen misstrauisch und ängstlich zu agieren. Wir trauen uns nicht mehr, uns offen auszutauschen, weil wir ganz schnell jemanden mit unliebsamer (oder seit diesem Jahr auch gerne „gefährlicher“) Meinung in eine der bereit gestellten Schubladen sortieren: Covidioten, Lockdown-Fetischisten, Querdenker, Nazis, Corona-Leugner, etc.

Es wird sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, zu unterscheiden, ob nur hinterfragt wird, ob eventuell vielleicht nur sogar ein Aspekt von der eigenen Meinung abweicht. Nein, es wurde ein globaler Beißreflex herangezüchtet, etwas, was es in dieser radikalen Form in den letzten Jahrzehnten in diesem Ausmaß nicht gab.

Wir sollten – gerade in unserem Land – eigentlich hellhörig werden, wenn wir selber merken, dass wir bei Gesprächen und Diskussionen mit Freunden, Bekannten, Nachbarn immer vorsichtiger und zurückhaltender bezüglich der eigenen Meinung werden. Könnte der andere denken, dass man die falsche Gesinnung hat? Wem könnte er das erzählen? Und schon sind wir an der Stelle, wo wir eine öffentliche Fassade produzieren, die unsere „Mit“menschen von uns zu sehen bekommen (ja, auch die uns näher stehenden) und wir mit unseren Meinungen und Zweifeln alleine umgehen müssen.

„Survival is Insufficient“ – mit dieser Prämisse bin ich heute gestartet. Und genau hierauf komme ich jetzt zurück. Irgendwann wird die aktuell pandemische Situation vorüber sein (zumindest vorübergehend), dann haben wir sie medizinisch im Griff. Dann mögen die finanziellen Aufräumarbeiten beginnen. Und dann? Die gesellschaftlichen Schäden, die wir hinterlassen haben, werden sich nicht einfach in Nichts auflösen. Die ehemaligen Freunde, die sich gegenseitig als Idioten und asoziale Arschlöcher bezeichnet haben, werden sich nicht einfach wieder in die Arme fallen, denn das, was hier gesät wurde, ist ein grundlegend tiefes Misstrauen. Jemanden, den Ihr für Euch als geistig als Flachpfeife abgestempelt habt, wird es hinterher nicht weniger sein. Die Distanz wird bleiben. Was gedacht wurde, kann nicht ungedacht gemacht werden.

Wir haben es geschafft, entlang vieler Kanten in unserer Gesellschaft Sollbruchstellen entstehen zu lassen. Es ist genau das Gegenteil von dem passiert, was uns unsere Populismuströten gerade verkaufen wollen: Wir sind weder enger zusammen gerückt noch sind wir solidarischer geworden. Im Gegenteil. Wir sind vorsichtig geworden, viele haben eine Fassade aufgebaut, nicht nur die, die der allgemeinen Meinung entgegen, sondern auch die, die der allgemeinen Meinung hinterherlaufen und sich durch besonderen Enthusiasmus beim öffentlichen Ausleben all der Maßnahmen auszeichnen, wenn man dann aber unter sich ist, gerne auch Fünf mal gerade sein lassen.

Die Frage, die sich mir stellt: Will ich in einer solchen Gesellschaft leben, bzw. kann ich es? Es mag extrem klingen, aber überleben ist für mich eben nicht das einzig Entscheidende. Man kann sich an viele Gegebenheiten anpassen, aber es war nie meine Sache, mich nach unten zu orientieren. Jemand, der in einem anderen gesellschaftlichen System aufgewachsen ist, mag damit klar kommen. Aber auch das ist vielfach nicht der Fall, ansonsten hätten wir nicht einen stetigen Strom an Flüchtlingen, die nicht nur Überleben, sondern BESSER leben wollen. Wie ich schon an anderer Stelle schrieb: Ich könnte in einem totalitären System nicht existieren.

Leben ist mehr als die pure Existenz. Viele merken dass hier noch nicht, weil Morgens immer noch ausreichend Nutella und fünf Sorten Wurst auf dem Tisch steht, man sein Hirn immer noch per Videostreaming und Online-Gaming ins Standby schalten kann und man sich selbst immer noch in die Tasche lügt, dass wir das alles ganz toll machen.

Nein, machen wir nicht! Der LKW hat bereits gebremst, wir starren auf die zwei Meter dunklen Asphalt vor uns und rasen auf die Stoßstange zu. Diejenigen, die aktuell einen Blick weiter nach vorne werfen, halten den Mund, weil es gesellschaftlich momentan nicht akzeptiert ist, auf den bevorstehenden Einschlag hinzuweisen. Immerhin sind wir gerade damit beschäftigt, Leben zu retten.

Vermutlich wird sich ein nicht kleiner Teil danach irgendwie mit dem, was wir dann als unsere Gesellschaft bezeichnen vorübergehend arrangieren können. Schön für Euch. Für mich ist es die erwähnte Zahnpasta, die wir da raus gedrückt haben. Wir werden immer mehr von Shitstorms, Twitter-Mobs und öffentlicher Empörung gesteuert und gerade wird das nächste Stockwerk im Konstrukt dieser Mechanismen aufgelegt. Ich will das nicht!

„Survival is Insufficient“ – ein Zitat aus einer Star Trek Voyager-Episode, in der Seven-Of-Nine darüber entscheiden musste, das Leben dreier ehemaliger Borg-Drohnen zu retten, in dem sie sie dazu verdammte, einfach nur im Kollektiv zu existieren, oder ihnen Individualität zuzugestehen, auch wenn dies deren Ableben nach wenigen Monaten zur folge hatte.

Ich habe, genau wie jeder andere auch, keine Ahnung, was das nächste Jahr bringen wird. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir den aktuellen Zustand aufrecht erhalten können oder wann die Menschen an ihre mentalen, körperlichen und wirtschaftlichen Grenzen kommen werden. Ich weiß aber, was dieses Jahr mit vielen von uns gemacht hat, bei einigen bewusst, bei anderen unbewusst.

Was ich mir für 2021 wünsche? Mehr Reflektion, mehr Voraussicht und vor allem, dass viele sehen mögen, dass die Gesellschaft in der wir leben, keine Naturkonstante ist, sondern historisch gewachsen, dass der Grund, warum wir trotz dieser ausgedehnten Pandemie nicht in einem wirtschaftlichen und medizinischem Totaldesaster enden, ein Gemeinschaft ist, die vielleicht doch so viel nicht falsch gemacht hat. Wir sollten vor lauter „Leben retten“ nicht vergessen, dass das auch in Zukunft nur funktioniert, wenn wir leben und nicht nur existieren. Ich möchte nicht in einer Welt voller sozialer Krüppel leben, in der es nur noch darum geht, sich immer wieder nur für Schwarz oder Weiß entscheiden zu müssen und alle anderen Schattierungen zu verdammen, in der ein normatives Sozialpunktesystem durch die Konditionierung der Breiten Masse etabliert und die bloße Existenz zum Dogma erklären wird. Ihr vielleicht?

So, das war‘s. Over & Out 2020. Schauen wir, was uns 2021 so über unsere Mauern wirft. Vielleicht sehen wir uns, in Eurer, meiner oder unserer Welt. It‘s up to you…